Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
Vom Netzwerk:
bereitete Mühe, als ob zwei Zungen und sechsundfünfzig Zähne in ihrem Mund Platz finden müssten. Weil sie seit einer halben Stunde Mund und Hände frei hatte, trank sie schneller als die beiden anderen.
    »Manchmal halte ich mich ...«, sagte sie. Höfi packte die Flasche am Hals und zog sie auf die andere Seite des Tischs.
    »Manchmal halte ich mich auf dem Trennstrich zwischen den Laufbahnen, der nicht breiter ist als ein Bordstein oder der Mittelstreifen einer Bundesstraße. Ich setze Fuß vor Fuß, ohne daneben zu treten, ohne zu schwanken, ohne Schwierigkeit mit dem Gleichgewicht. Dabei stelle ich mir vor, dieser Strich sei ein schmaler Grat, der lang gezogene First eines Bergmassivs, und links und rechts von mir ginge es tausend Meter in die Tiefe. Ich stelle mir vor, wie das von außen betrachtet aussähe. Ein winziger, bewegter Punkt hoch oben auf dem Kamm einer Felswand.«
    »Wir machen den Weg frei«, sagte Alev, nahm Höfi die Flasche weg und goss sich nach.
    »Was ich damit sagen will.« Wieder blieb Adas Zunge an der unteren Zahnreihe hängen. »Das Leben ist eine permanente Bewegung auf diesem Strich. Solange man glaubt, es handele sich um einen Farbstreifen zwischen zwei Spuren, läuft man ruhig und sicher. Sobald man erkennt, dass es ein Grat ist, der über einen bodenlosen Abgrund führt, gerät man ins Straucheln und in Lebensgefahr.«
    Sie nickte zweimal, zufrieden, den Satz fehlerfrei zum Abschluss gebracht zu haben, und griff nach Alevs vollem Weinglas.
    »Und du hast das erkannt?«, fragte Höfi.
    »Ich leide unter einem Geburtsfehler«, erwiderte sie. »Mir fehlt die Fähigkeit, den Abgrund zu vergessen. Ich weiß nicht, ob Sie das als göttlich, teuflisch oder menschlich bezeichnen würden.«
    Nach einigen Sekunden Stille, in denen das Haus knackend und knisternd zu einer eigenen Stimme fand, klopfte Höfi ihnen auf die Oberarme, um sie zum Aufstehen zu bewegen. Langsam gingen sie nebeneinander durch den weitläufigen Speisesaal. Wäre Ada nicht so betrunken gewesen, hätte ihr auffallen können, dass dies einer der glücklichsten Momente ihres Lebens war. Als sie das untere Ende der Treppe erreichten, gab Höfi ihnen förmlich die Hand.
    »Alev«, sagte er, »ich will, dass du Ada bis zur Tür ihres Zimmers bringst. Natürlich gehst du nicht mit hinein. Und seid leise, damit ihr niemanden weckt. Hast du verstanden?«
    Ada sah zu Alev auf, der nicht viel größer war als sie, und kippte dabei den Oberkörper nach hinten, als befände er sich in großer Höhe, vielleicht rennend auf äußerst schmalem Grat.
    »Verstanden«, sagte sie.
    Wenn man Gott und den Teufel ruft, antwortet niemand
    I n der folgenden Nacht fiel die Temperatur um fast zehn Grad, und in den Morgenstunden begann es zu schneien. Ada erwachte mit leichten Kopfschmerzen, stand auf und ging zum Fenster, bevor eins der anderen Mädchen die Augen aufschlug. Herbst und Winter waren die besten Jahreszeiten, moja ulubiona pora roku, wie Smutek sagte, das hatte sie sich gemerkt. Wenn die Natur starb, konnte der Mensch sich lebendig fühlen. Der Schnee und die Stille, das Herabschaukeln von Blättern, sterbende Tiere, Kälte und niedrige Himmel stellten keine Anforderungen an ein glückliches, postkartenbuntes Leben, das ohnehin niemand besaß.
    Eine Weile beobachtete sie ihre Zimmergenossinnen beim Schlafen. Wenn das Leben ein hoher, schmaler Grat war, dann saßen diese Mädchen ganz unten und schauten nicht einmal hinauf. Ada grinste, was den Kopfschmerz verstärkte. Der hohe Grat hatte Höfi gefallen, sie hatte es ihm angesehen.
    Leise suchte sie Hose und Hemd aus der Tasche und zog beides über die nackte Haut. Draußen sanken die Flocken so langsam zu Boden, als hätte über Nacht jemand an der Schwerkraft gedreht. Auch Adas Schritte erforderten nicht die geringste Kraftanstrengung, wie auf einem Luftkissen schwebte sie die Einfahrt hinunter und spürte beim Verlassen des Geländes, wie die warme, behaglich erleuchtete Herberge hinter ihr zurückblieb. Der Abstand zu den schlafenden Larven in Daunenkokons vergrößerte sich mit jedem Schritt. Die Luft roch nach Holzfeuer und Maiskolben.
    Einen Kilometer verlief der Fahrweg zwischen leeren, schlammigen Feldern. Ada nahm die erste Abzweigung, hoffte, den Wald zu erreichen, wurde aber vom Zaun einer Koppel gestoppt, auf der zwanzig Ponys in einer Ecke zusammenstanden. Als sie über den Querbalken stieg, wieherte ein schmutzig weißes verhalten. Während sie näher kam, flog ein

Weitere Kostenlose Bücher