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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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Boden vor ihren Füßen betrachten. Ada war zu beschäftigt, um ihr weiter Beachtung zu schenken. Sie rief Gott und den Teufel in sich und erhielt keine Antwort.
    Die Eisfee beim Nachtbad
    N ichts wies auf einen Donnerstag hin. Fern von den geregelten Abläufen der Städte, fern von Schulalltag, Morgenzeitung und Abendnachrichten verloren die Namen der Wochentage mit solcher Geschwindigkeit an Bedeutung, dass man sich fragte, ob sie ihre Bezeichnungen jemals zu Recht getragen hätten. Die Zeit sprang aus ihrem Korsett, dehnte und streckte sich nach Belieben und ließ die Annahme, man sei erst anderthalb Tage zuvor in Dahlem angereist, als dummdreisten Trick des Erinnerungsvermögens erscheinen. An gefühlter Zeit waren seit der Ankunft zwei Wochen vergangen, und Ada fing bereits an, ihr gewöhnliches Leben für unglaubwürdig zu halten. Mit etwas mehr Erfahrung hätte sie im prompten Plausibilitäts-verlust der eigenen Herkunft ein zeitgemäßes Talent zum Vagabundieren erkannt. So aber hielt sie den Effekt für eine Folge des ungewohnten Alleinseins unter Menschen, das sich gegenüber dem üblichen Alleinsein ohne Menschen durch spürbar höheren Kräfteverbrauch auszeichnete.
    Gegen zehn am Abend beendete Smutek die Vorbereitungen zu einer fiktiven Stadtführung durch Wien. In den verschiedenen Räumen des Hauses bereiteten Schülergruppen die Darstellung von Sehenswürdigkeiten und, Oxymoron hin oder her, von wichtigen historischen Ereignissen vor, bemalten Tapeten, probten dramatische Szenen, klebten Photos und Postkarten an die Wände. Ada hatte darum gebeten, wegen mangelnder Teamfähigkeit ein Stück Musil auswendig lernen und vortragen zu dürfen. Als Smutek die Schüler mit fröhlicher Stimme und geräumigen Handbewegungen entließ, drehte sich in ihr noch immer ein Geschwader nicht zu Ende gedachter Gedanken, so dass die Aussicht, den restlichen Abend zwischen menschlichen Kapseln unbekannten Inhalts zu verbringen, unerträglich erschien. Ungesehen gelangte sie in die Eingangshalle, schnürte die Laufschuhe zu und floh ins Freie.
    Die Nachtluft war frisch und klar wie Wasser. Um sich nicht zu verirren, schlug Ada den Weg ein, den sie tagsüber auf der Wanderung genommen hatten. Tief atmete sie durch die Nase ein und durch den Mund aus, und der ganze Wald mit seinen pelzigen oder gepanzerten Bewohnern, mit harsch gefrorenem Schnee, geduckten Pflanzen, schwammig voll gesogenem Moos und aufgeweichter Baumrinde blieb ihr als ein Geschmack auf der Zunge zurück. Der Mond schickte ihr den eigenen Schatten als Späher voraus. Nach wenigen Minuten wurde ihr von innen warm, eine Dampfwolke hüllte sie ein, die Erde federte, die Bäume am Wegrand verschmolzen zu schwarzen Massen, rückten näher zusammen und fassten sich hoch oben an den Händen, bis sie den Mond verdunkelten. Hinter Ada schloss sich die Finsternis zu blickdichten Wänden.
    Als sich rechter Hand eine Lichtung öffnete, verlangsamte sie das Tempo und hielt schließlich an. Während des Spaziergangs am Tag hatte sie diese Stelle vom Weg aus gesehen und sich vorgestellt, wie es sein müsste, bei Nacht hierher zu kommen. Der Schauplatz war wie gemacht für Szenen aus einem Märchenfilm, ein Treffpunkt für Wolf und Hase zur Beratung über das Wesen der Dinge, ein Festanger für Elfenkinder außerhalb elterlicher Reichweite, Kulisse für den Auftritt sprechender Quellen und denkender Pilze mit großen, braunen Hüten. Das Gras stand niedrig, als würde es regelmäßig gemäht. In der Mitte befand sich ein Tümpel von Länge und Breite eines Hockeyfelds, von Bäumen umgeben, die in Grüppchen beisammenstanden wie Mannschaften beim Aushecken ihrer Strategie für die nächsten Spielminuten. Die Oberfläche des Weihers war bleich gefroren und schneebedeckt.
    Ada durchquerte den Graben neben dem Weg und löste dabei die Stacheln vertrockneter Brombeerranken so behutsam aus der Kleidung, als handelte es sich um die Hände winzigster Wesen.
    Quer über die Lichtung folgte sie einer undeutlichen Spur, die sie zunächst für einen schlecht besuchten Wildwechsel hielt, und fand sich jäh einem Anblick gegenüber, der ihr in die Schaltzentrale des Nervensystems drang und es für mehrere Sekunden völlig lahm legte. Unmöglich, einen Gedanken zu fassen, geschweige denn, eine Bewegung auszuführen. Sie stand still auf der mondhellen Wiese und schaute. Sie war nicht allein.
    Die zweite Person befand sich im Teich, großzügig eingerahmt von den Rändern eines

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