Spielwiese: Peter Nachtigalls siebter Fall
blinzelte leicht verstört. »Krissie?«
»Auch. Sie kommen später noch mal vorbei.«
Ronny Zobel wich dem Blick des Ermittlers aus – drehte den Kopf demonstrativ zur Seite. »Ich habe Sie nicht gebeten, den Notarzt zu verständigen. Erwarten Sie bloß keinen Dank«, flüsterte er verbittert.
»Ich erwarte nur eine Antwort. Auf meine Frage gestern, warum Sie dieses Märchen von den Fluchtplänen erzählt haben, antworteten Sie: Wir waren Freunde. Mir ist nicht ganz klar, was Sie damit ausdrücken wollten.«
Zobel schwieg. Ausdauernd.
Nachtigall bewies mindestens ebenso großes Beharrungsvermögen.
»Roland und ich waren wie Brüder«, ächzte Zobel endlich.
»Das beantwortet meine Frage nicht.«
»Nein, vielleicht nicht.«
Wieder lastendes Schweigen.
»Roland wäre so gern etwas gewesen, was meine Tochter als coolen Typen bezeichnen würde. Davon war Roland in Wahrheit allerdings Lichtjahre entfernt. Tief in seiner Seele war er ein spießiger, ängstlicher Junge, dem im Leben einfach nichts so recht gelingen wollte. Ein Langweiler. Die vielen Partys. Nur um niemanden merken zu lassen, wie öde er im Grunde war. All die Weibergeschichten. Nur damit keine je herausfinden konnte, wie wenig mit ihm los war. Dann der Rückschlag bei der Karriereplanung – Rheuma. Ich wollte ihm die Aufmerksamkeit verschaffen, die er sich immer gewünscht hat«, röchelte Zobel.
»Wir haben gehört, er sei schwierig gewesen. Es gab ständig Differenzen mit seinen Eltern.«
»Ja, schon. Das widerspricht sich nicht. Seine Eltern – das war ein Kapitel für sich. Rolands Mutter träumte davon, über ihren Sohn berühmt zu werden. Als das nicht richtig klappen wollte, wurde die Situation zu Hause unerträglich. Aber das ändert nichts daran, dass Roland eine Menge Action veranstaltet hat, um den Anschein zu erwecken, er sei ein toller Hecht. Dabei drehte sich sein Leben eben nur um Fußball. Erst um sein eigenes Training – er konnte stundenlang über Taktik und Laktat und solche Dinge reden – später war es sein Ausbildung zum Trainer, die das Gespräch dominierte, bis seine Arbeit in der Frauenfußballmannschaft in Potsdam zum Topthema avancierte. Ich konnte es manchmal kaum ertragen. Lesen? Nö. Eine politische Meinung? Fehlanzeige.«
»Er war Ihr Freund.«
»Er war einsam. Schon immer. Wie ich selbst. Das hat uns zusammengeschweißt. Sie wissen schon: Zusammen ist man weniger allein. Mit mir konnte er über seine Probleme sprechen, seine Ängste und Sorgen. Seinen Ärger über Bernhard Schneider, der ihn überwachen sollte. Wenn wir uns getroffen haben, konnte der coole Roland zu Hause bleiben und sich ausruhen.«
»Es musste doch einen Grund für sein Verschwinden geben. Haben Sie sich zu keinem Zeitpunkt Sorgen um Ihren Freund gemacht?«
»Anfangs nicht. Ich dachte, er hat sich mit einem Mädchen eingelassen oder einer verheirateten Frau. Damals ging ich ja noch davon aus, dass er spätestens nach ein paar Tagen wieder aufkreuzt. Also habe ich eine Räuberpistole erzählt, damit er als Held dastehen konnte, wenn er wieder auftauchte. Einmal Westen, dann enttäuscht umkehren und in der DDR weiter Sportgeschichte schreiben. So dachte ich mir das. Die Bücher über Ballonbau gehörten mir – eine Tante aus dem Westen hatte sie mir gut getarnt geschickt. Es war keine Hürde, sie in Rolands Regal zu platzieren. Aber Roland kam nicht zurück. Meine Geschichte war längst zum Selbstläufer geworden – ich konnte ohne Gesichtsverlust nicht mehr aussteigen.« Zobel stöhnte laut. »Können Sie sich überhaupt vorstellen, wie verzweifelt ich war? Am liebsten wäre ich tot umgefallen. Rolands Vater hat sich in regelmäßigen Abständen bei mir erkundigt, ob sein Sohn vielleicht geschrieben habe. Jedes Mal ein Stich in die Wunde. Und ich fragte mich natürlich ständig, was wirklich passiert war. Mit den Jahren glaubte ich selbst an die Republikflucht, redete mir ein, dass ich wohl instinktiv gespürt haben musste, was er plante. Vielleicht eine Art Schutzmechanismus.«
»Sie haben eine Mordermittlung verhindert.«
»Ich dachte doch, morgen ist er wieder da! Übermorgen! Nächste Woche. Bis es zu spät war.«
»Herr Skorubski ist zur OP«, beschied Schwester Inge dem Hauptkommissar wenig später auf der M2/2, der Station für Hämatologie. »Wenn Sie möchten, können Sie ihm gern eine Nachricht hinterlassen.«
Nachtigall las die Worte für Albrecht noch einmal sorgfältig durch.
Zeile für Zeile schmerzlich
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