Spin
Möglichkeit vollkommen bewusst bin. Dieser Gewissheit, wäre wohl korrekter. Es liegt auf der Hand, dass ich politischen Nutzen bringen soll, aber es steht in meiner Macht, mein Einverständnis zu gewähren oder zu verweigern. Zu kooperieren oder mich störrisch zu zeigen. Die Macht, das richtige Wort zu sagen.« Er lächelte erneut, seine Zähne waren allesamt perfekt und strahlend weiß. »Oder auch nicht.«
»Und welchen Zweck verfolgen Sie?«
Er zeigte mir seine Handteller, eine sowohl marsianische als auch terrestrische Geste. »Gar keinen. Ich bin ein Heiliger vom Mars. Aber es wäre mir eine Genugtuung, wenn die Replikatoren losgeschickt würden.«
»Um der reinen Erkenntnis willen?«
»Ja. Wenigstens ein bisschen was über den Spin zu erfahren…«
»Und die Hypothetischen zu provozieren?«
Er blinzelte wieder. »Ich hoffe doch sehr, dass die Hypothetischen, wer oder was sie auch sein mögen, dies nicht als Provokation auffassen werden.«
»Falls sie es aber doch tun…«
»Warum sollten sie?«
»Falls sie es doch tun, werden sie glauben, dass die Provokation von der Erde ausging, nicht vom Mars.«
Wun blinzelte noch ein paarmal. Dann kroch das Lächeln in sein Gesicht zurück – nachsichtig, billigend. »Sie können ja selbst überraschend zynisch sein, Dr. Dupree.«
»Wie unmarsianisch von mir.«
»Ganz recht.«
»Und hält Preston Lomax Sie für einen Engel?«
»Diese Frage kann nur er selbst beantworten. Das Letzte, was er zu mir sagte…« Unvermittelt sprang Wun aus seiner Oxford-Redeweise heraus und lieferte eine perfekte Preston-Lomax-Imitation: »Es ist mir ein großes Vergnügen, mit Ihnen zu sprechen, Botschafter Wen. Sie sind offen und freimütig. Sehr erfrischend für ein altes Politikerschlachtross wie mich.«
Die Imitation war um so erstaunlicher, als sie von jemandem kam, der erst seit etwas über einem Jahr Englisch sprach. Ich brachte meine Bewunderung zum Ausdruck.
»Ich bin Gelehrter von Beruf. Ich habe schon als Kind Englisch gelesen. Sprechen ist natürlich noch etwas anderes, aber ich denke, ich habe eine gewisse Begabung für Sprachen. Das ist ja auch einer der Gründe, warum ich hier bin. Dürfte ich Sie noch einmal um einen Gefallen bitten, Tyler? Könnten Sie mir mehr Romane bringen?«
»Mehr Marsgeschichten kenne ich leider nicht.«
»Nein, nicht vom Mars. Egal, welche Sorte Roman. Irgendetwas, das Sie für wichtig halten, das Ihnen etwas bedeutet oder Vergnügen bereitet hat.«
»Es gibt bestimmt jede Menge Englisch-Professoren, die mit Freuden bereit wären, eine Leseliste für Sie zu erstellen.«
»Sicher. Aber ich wende mich an Sie.«
»Nun, ich lese zwar gern, aber ziemlich wahllos, und meistens zeitgenössische Literatur.«
»Um so besser. Ich bin häufiger allein, als Sie sich vielleicht vorstellen. Meine Wohnung ist bequem, aber ohne aufwändige Planung kann ich sie nicht verlassen. Ich kann zum Beispiel nicht einfach so ins Restaurant gehen. Ich kann mir keine Filme im Kino ansehen oder irgendeinem Verein beitreten. Ich könnte meine Aufpasser um Bücher bitten, doch gerade das möchte ich eben nicht: Literatur lesen, die von irgendeinem Komitee abgesegnet wurde. Ein ehrliches Buch dagegen ist fast so viel wert wie ein Freund.«
Das war mehr oder weniger die deutlichste Klage über seine Stellung bei Perihelion, seine Stellung in der Welt überhaupt, zu der Wun sich in meiner Gegenwart je hinreißen ließ. Tagsüber sei er eigentlich ganz zufrieden, sagte er, viel zu beschäftigt, um sich in Nostalgie zu ergehen, fasziniert von all den Merkwürdigkeiten dieser Welt, die für ihn doch immer eine fremde bleiben würde. In der Nacht jedoch, beim Einschlafen, stellte er sich manchmal vor, wie er am Ufer eines marsianischen Sees spazierenging und die Vögel beobachtete, die in Schwärmen über die Wellen segelten, und in seiner Vorstellung war es immer ein diesiger Nachmittag, das Licht getönt von Partikeln jenes uralten Staubs, der sich aus den Wüsten Noachis’ erhob. In diesem Traum, dieser Vision sei er allein, sagte er, aber er wisse, dass hinter der nächsten Biegung des felsigen Ufers Leute auf ihn warteten. Es mochten Freunde oder Fremde sein, vielleicht sogar seine Familie, die er verloren hatte – er wusste nur, dass er von ihnen begrüßt werden würde, willkommen geheißen, berührt, umarmt, an die Brust gezogen. Doch es war nur ein Traum.
»Wenn ich lese«, sagte er, »höre ich das Echo dieser Stimmen.«
Ich versprach, ihm Bücher zu
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