Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)
Oder glauben Sie, dass ich mir das alles nur einbilde?«
»Dazu kann ich nichts sagen. Alles was ich sagen kann, ist, dass auf diesen Fotos nichts Ungewöhnliches zu sehen ist. Ich kenne GDT ziemlich gut, wir arbeiten seit vielen Jahren zusammen. Ich bin überzeugt, dass dort alles mit rechten Dingen zugeht. Es handelt sich um ein ausgezeichnetes und gut geführtes Unternehmen, dass sich sehr stark für Forschung und Wissenschaft einsetzt.«
»Aber es wäre doch möglich, dass man im Rahmen der Experimente absichtlich ein klein wenig zu weit geht. Dass man zum Beispiel Versuchspersonen manipuliert oder unter Drogen setzt. Oder dass man heimlich gefährliche Experimente durchführt?«
»Es gibt für Versuche und Testreihen mit Menschen genaue Vorschriften. Und auch Tierexperimente unterliegen einem strengen Codex. Soweit ich weiß, hält Gene Design Tech sich daran.«
»Ja, mag sein, aber wie oft wird dagegen verstoßen? Erst vor zwei, drei Monaten ist bekannt geworden, dass einige Versuchspersonen bei einem Medikamentenversuch in England gestorben sind, weil man absichtlich die Regeln etwas nachlässig ausgelegt hat, um schneller zu Ergebnissen zu kommen.«
»Es wird immer schwarze Schafe geben, zu einem geringen Prozentsatz.«
»So? Und wie würden Sie handeln, wenn Sie die Möglichkeit zu einem ganz großen Durchbruch hätten? Wenn Sie vielleicht sogar die Chance hätten, den Nobelpreis für eine Entdeckung zu kriegen? Würden Sie dafür nicht ein paar Risiken eingehen?«
Paul sah sie mit großen, erstaunten Augen an. Da war er wieder, dieser kokette Tonfall, diese Mischung aus Neugier und Provokation, die er an Sarah vom ersten Augenblick an so faszinierend gefunden hatte. Er hatte das Gefühl, dass sie ihm seine Verliebtheit ansehen musste. Deshalb bemühte er sich ganz besonders, gelassen zu bleiben und reagierte betont trocken.
»Ich habe darüber noch nicht nachgedacht, aber ich glaube nicht.«
»Aber viele Ihrer Kollegen würden es tun. Wissenschaftler sind oft sehr eitel. Schauen Sie sich um. Ich erinnere nur an diesen Koreaner, der ganze Forschungsreihen und -ergebnisse einfach frei erfunden hat, um auf die Titelseite von Neuroscience zu kommen!« Sarah warf herausfordernd ihren Kopf nach hinten. Jetzt war sie in ihrem Element. Sie liebte provokante Diskussionen. Und Paul liebte die Art, wie sie ihn dabei anschaute. In diesen herausfordernden Blick hatte er sich bei ihrer ersten Begegnung im Kick-off-Meeting sofort verliebt.
»Lust auf einen Wein?«, fragte er plötzlich und für Sarah vollkommen unerwartet. »Dabei können wir uns viel besser über dieses Thema unterhalten.«
»Okay, wenn Sie meinen, versuchen wir’s!« Sarah packte das provokanteste Lächeln aus, das sie drauf hatte, setzte ihre Stimme eine Oktave tiefer und legte den Kopf einladend zur Seite. Sie genoss es, dass Paul nicht so recht wusste, wie er auf diese offensichtliche Anmache reagieren sollte, und sie regungslos und mit großen Augen anstarrte.
»Na, kommen Sie schon, gehen wir!« Sie hakte ihren Arm mit einem Schwung unter Pauls Arm ein und zog ihn mit sich Richtung Ausgang.
Paul schlug eine kleine Bar in Kreuzberg vor, flippig, aber nicht unbedingt ein Treffpunkt für Weinliebhaber. Um genau zu sein, gab es auf der Karte unter der Rubrik »Wein« nur zwei Einträge: »Rot« und »Weiß«. Zu Herkunft oder Namen sagte die Karte nichts. Auf Nachfrage stellte der Barmann wortlos zwei Zweiliterflaschen auf den Tresen und überließ seinen Gästen alle weiteren Nachforschungen. Dafür war das Ambiente ganz schräg. Die Betreiber der Kneipe ließen ihrer Kreativität freien Lauf und dekorierten die Bar regelmäßig nach Lust und Laune um. Dem aktuellen Dekorationsanfall waren allerlei Küchenutensilien zum Opfer gefallen. Von der Decke hingen bizarr verknotete, mit Wasser gefüllte und mit Leuchtfarbe bemalte Küchenhandschuhe. Auf einem Barhocker lümmelte eine Figur aus Topf und Flaschenreinigern, deren Rückgrat ein verbogener lila Plastikbesenstiel war.
Angesichts der Weinflaschen orientierten sich Paul und Sarah um und bestellten sich wie fast alle in diesem Laden ein Jever. Der Barmann fischte die beiden Flaschen aus dem verschlissenen Kühlschrank, machte sie auf und stellte sie mit minimalem Aufwand auf die Theke. Sein Gesichtsausdruck war dabei vollkommen ausdruckslos. Hier war noch alles so wie im Vor-Hauptstadt-Berlin. Kein Gedanke an Marktwirtschaft oder Service. Hier war man »Kiez-Familie« und so
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