Spinnefeind
Zukunft. Wie soll sich das alles auflösen? Wann kann sich Hannes wieder gefahrlos zeigen?«
Valente nahm einen tiefen Zug, dann noch einen. Katinka hatte den Eindruck, er wolle etwas sagen, aber er schaffte es unter Aufbietung aller Selbstbeherrschung, den Mund zu halten.
»Wie lange ist er schon im Untergrund? Drei Wochen? Weißt du, wie nervig das ist? Wie man sich fühlt, wenn man immer Angst hat, entdeckt zu werden? Sich nicht unter die Leute traut? Keine Ansprache hat, keinen zum Reden? Kannst du dir vorstellen, welche Eintönigkeit sich ausbreitet, wenn …«
»Doch.« Valente flüsterte, aber Katinka konnte ihn gut verstehen, während er die Wörter gemeinsam mit dem Zigarettenrauch in die warme Abendluft hauchte. »Doch. Ich kann es mir vorstellen.«
Der Mann atmet schwer.
Er keucht. Seine Lungen rasseln wie ein ganzer Maschinenraum. Er muss den Rechner einschalten, er muss es einfach, und wenn die Blitze der Hölle ihn im gleichen Augenblick vernichten!
Er tut es nicht. Noch nicht. Er hat gelernt, sich zurückzuhalten, indem er aus jedem Nein ein vorläufiges macht. Er schaltet jetzt nicht ein. Aber er kann später einschalten. In fünf Minuten. Wenn die fünf Minuten um sind, kann er sich erneut befragen. Und entscheiden. Sein Leben besteht aus einer Abfolge von Fünf-Minuten-Rhythmen. Er könnte auch eine Tablette nehmen. Er hat sich für heute krankschreiben lassen. Es sind die Bandscheiben. Seine Ärztin sieht kein Problem darin, ihn wegen der Bandscheiben krankzuschreiben. Alle haben es im Kreuz. Er eben auch.
Absurd, was die alle reden, denkt er, als er sich die Hände wäscht. Er tut das sehr ausgiebig. Er bevorzugt flüssige Cremeseife, jedes Mal kauft er eine andere. Er hat einen hohen Verbrauch, aber mit seinem Gehalt kann er sich das leisten, und wenn er nicht im Internet seiner Passion frönt, dann bleibt ihm doch wohl Geld genug für Seife. Er lacht auf und schaut sich im Spiegel an. Er sieht gesund aus. So was von gesund! Seine Haut ist noch glatt, sein Haar voll. Er hat einen geraden Gang. Ein paar Muskeln mehr wären wünschenswert, aber er kann sich nicht um alles kümmern, und ein Fitnessstudio betritt er nicht. Mit den Typen da will er nichts zu tun haben. Nie könnte er es über sich bringen, die vom Schweiß der anderen verschmierten Geräte zu benutzen. Wie sähe das denn aus, wenn er mit seinem Desinfektionsspray ankäme.
An den Wochenenden unternimmt er gern Wanderungen. Meistens fährt er früh raus, um den Leuten zu entgehen, die später aus den Federn kriechen und dann jedes Seeufer, jeden Wanderweg im Umkreis bevölkern. Er nimmt lange Wege in Kauf, nur um allein zu sein. Er nimmt auch seine beiden Wohnsitze in Kauf, denn er braucht die Anonymität, die der ständige Wechsel ihm beschert. Weder in München noch in Bamberg kennen ihn viele. Er sucht keinen Kontakt. Privatleben hat für ihn nur eine Bedeutung: für sich zu sein. Er ruft sich die Etymologie von ›privat‹ ins Gedächtnis. Immerhin ist er humanistisch gebildet und stolz darauf. ›Privat‹ kommt von lateinisch privare , ›berauben, von einem Übel befreien‹. Das passt so gut zu seiner Situation, dass er lachen muss. Wenn er nur endlich von diesem einen Übel befreit wäre … und wieder ein Privatmann!
Soll er glauben, was man ihm gesagt hat? Dass er Chancen hätte …? Er will es nicht aussprechen. Er ist ganz zufrieden mit der ruhigen Kugel, die er schiebt. Er trägt einen Dreiteiler, schreitet morgens gemessen ins Amt und abends wieder heim. Ja, manchmal ist das Stress pur, wie er auf alles Mögliche reagieren muss, schnell reagieren, aber es hält ihn ab vom Internet.
Die Brüder setzen ihm zu. Wenn er dieses Haus hier übernehmen würde – und nur so drücken sie sich aus, da sagt keiner einen Namen oder einen festen Begriff, man ist paranoid unter den Brüdern –, wenn er also hier der Oberste würde, dann hätten die Brüder einen ganz anderen Zugriff auf die Bildung im Freistaat. Das wäre nur der erste Schritt!
Noch wird er den Rechner nicht einschalten. Er raucht lieber eine Zigarette, danach wäscht er sich die Hände. Ja. So wird er es machen.
Wenn er diese Position hätte, könnte er Weichen stellen, die deutschlandweit, europaweit Konsequenzen hätten. Du musst zugeben, sagt der Dicke, bei der momentanen Bedrohungslage, müssen wir da nicht etwas entgegensetzen? Kultur, Religion, Spiritualität des alten Europa, aus christlicher, na, katholischer Tradition? Sieh dir doch an, wie
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