Spion Für Deutschland
überfahren. Vor sieben Jahren. Ich glaube, ich bin danach eine Zeitlang verrückt gewesen. Meine Eltern waren schon lange tot. Ich war al ein mit meiner Schwester gewesen. Es gab keinen Trost für mich.
Nicht den Zipfel einer Einsicht. Ich weiß heute nicht mehr, wie ich diese Zeit überlebt habe. Es hat Monate, vielleicht Jahre gedauert, bis ich darüber hinweggekommen bin.«
Ich sah zu Boden, betrachtete mir dann sein Gesicht. Jedes Wort, das er sprach, war echt, einfach, überzeugend. Er stand auf, ging hin und her. Sein Gesicht, das für ein paar Minuten starr geworden war, belebte sich wieder.
»Sehen Sie«, sagte er, »dann bin ich Geistlicher geworden. Eigentlich nur deshalb, um Leuten beistehen zu können, die so etwas Entsetzliches
mitmachen müssen, wie ich es erlebt habe. Sie sollen nicht verrückt werden darüber.«
»Ja«, erwiderte ich.
»Sehen Sie«, fuhr er fort, »einer von denen, die nicht verrückt werden sollen, sind Sie.«
»Ich glaube, ich werde nicht verrückt«, entgegnete ich. »Und wenn ich es werde, schadet es niemandem.«
Er schwieg. Wir rauchten, saßen nebeneinander auf der Pritsche. So nahe beieinander, daß sich unsere Schultern berührten.
»Haben Sie schon einmal gebetet?« fragte er mich.
»Ja. Natürlich. Aber es ist schon lange her. Ich war noch ein Kind. Später habe ich es vergessen.«
»So geht es vielen«, entgegnete er. »Sie vergessen es einfach. Aber manchmal fäl t es ihnen dann wieder ein.«
Er stand auf.
»Ich komme morgen wieder«, sagte er, »wenn es Ihnen recht ist. Wenn Sie mich sehen wollen: ich komme zu jeder Stunde gerne.«
Wir reichten uns zum Abschied die Hände.
Beten? Kann man das? Soll man das? Muß man das?
Ich versuchte mich zu erinnern, wie es damals war, als ich noch ein Kind war, als in der Kirche die Orgel spielte, der Pfarrer uns segnete, als ich meinen ersten dunkelblauen Anzug mit langen Hosen trug, als die Kerzen jenen Duft verbreiteten, dem ich ein Leben lang aus dem Wege gegangen bin . . .
Ich versuchte, mich an die Worte des Gebets zu erinnern, aber es dauerte lange, bis sie mir einfielen. Sie wollten mir nicht über die Lippen gehen. Trotzdem wol te ich zu beten versuchen.
»Vater unser«, sagte ich vor mich hin, »der du bist im Himmel.« Ich sagte es wieder und wieder, mechanisch, stumpfsinnig, so lange, bis es einen Sinn bekam.
Wer hatte schon noch an das Beten gedacht? Das Reichssicherheitshauptamt hatte alles abgeschafft: Gott, den Himmel, das Werk Christi. Nur etwas hatte es nicht abgeschafft: den Tod, das Sterben, das Ende. Der Tod hatte sich nicht um das Reichssicherheitshauptamt gekümmert.
Es war jetzt 14 Uhr. Wieder wurde Jonny abgelöst. Heute war ein unruhiges Treiben im Zel enhaus von Fort Jay. Andauernd hörte ich das Blubbern von Gummistiefeln auf dem Gang. Mein neuer Wärter war ganz korrekt. Ich wollte rauchen aber ich hatte kein Feuer. Ich rief ihn an. Er gab mir keine Antwort.
Wahrscheinlich fürchtete er die Strafpunkte.
Gegen 15 Uhr besuchte mich der Wachoffizier.
»Zufrieden?« fragte er.
»Soweit ja.«
»Gut.«
»Ein Whisky täte gut«, sagte ich.
»Das ist das einzige, außer Ihrer Freiheit, was ich Ihnen nicht geben kann.
Vielleicht kommen wir einmal auf mein Büro«, meinte er dann, »und treffen uns zu einem schnellen Schluck. Ich weiß, wie das ist, so ohne Whisky.«
Er setzte sich auf meine Pritsche.
»Haben Sie mit dem Pfarrer gesprochen?«
»Ja.«
»Gut so.«
Ein aufgeregter Soldat lief über den Gang. Plötzlich hörte ich Geschrei. Ich horchte angestrengt, aber ich verstand nichts.
Der Captain stand unwil ig auf. Ein GI stürzte in die Zel e. Er hatte einen roten Kopf. Er wollte etwas heraussprudeln, aber der Offizier gab ihm ein Zeichen. Sie gingen in die Ecke. Ich hatte es mir angewöhnt, von den Lippen zu lesen. Ich starrte den Soldaten angespannt an, beobachtete den Captain. Etwas
Außergewöhnliches mußte vorgefallen sein, etwas ganz Besonderes, etwas, was die routinierten Kommißköpfe von Fort Jay durcheinanderbrachte.
Ich sah auf die Lippen des GI. Ich glaubte zu verstehen, was er sagte. Aber ich begriff es noch nicht.
»Roosevelt is dead«, sagte der GI.
Ganz Amerika hörte im gleichen Augenblick: »Roosevelt ist gestorben.«
Der Mann im Weißen Haus war tot! Tot! Gestorben an Gehirnblutung.
Der Captain ging auf mich zu, klopfte mir auf die Schulter.
»Sie haben Glück«, sagte er.
»Warum?« fragte ich.
»Der amerikanische Präsident ist gestorben. Das
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