Spione kuesst man nicht
dann sah ich die Frau an, die mich großgezogen hatte und Gerüchten zufolge einmal einen russischen Würdenträger so lange bezirzt hatte, bis er als Schwangere verkleidet einen Wasserball voll flüssigen Stickstoffs unter dem Hemd trug. Da wusste ich, dass ich waffentechnisch unterlegen war, selbst mit Bex und Liz an meiner Seite.
»Und wenn euch das noch nicht reicht –« Mom drehte sich um und schaute einen alten samtenen Wandteppich an, der in der Mitte der breiten Steinmauer hing.
Natürlich hatte ich ihn schon einmal gesehen. Wenn ein Mädchen lange genug davorstehen wollte, konnte sie den Stammbaum der Familie Gallagher verfolgen, der sich neun Generationen vor Gilly und zwei Generationen nach ihr verzweigte. Wenn ein Mädchen Besseres zu tun hatte, konnte sie hinter den Wandteppich greifen und das Wappen der Familie Gallagher berühren, das in den Stein eingelassen war, das kleineSchwert drehen und dann durch die geheime Tür schlüpfen, die sich öffnet. (Sagen wir so: Ich gehöre zum zweiten Mädchentyp.)
»Was hat das mit …«, begann ich, wurde aber von Liz’ »Ach du liebe Zeit!« unterbrochen.
Ich folgte dem schlanken Finger meiner Freundin und sah die Zeile am unteren Rand des Gobelins. Ich hatte nicht gewusst, dass Gilly verheiratet war. Ich hatte nicht gewusst, dass sie ein Kind hatte. Nie hätte ich mir träumen lassen, dass der Familienname des Kindes »McHenry« war.
Und die ganze Zeit hatte ich geglaubt, ich sei eine der Nachkommen.
»Wenn Macey McHenry zu uns kommen möchte«, sagte Mom, »finden wir für sie einen Platz.«
Sie drehte sich um und wollte gehen, aber Liz rief ihr hinterher: »Aber, Madam, wie kann sie … Sie wissen schon … aufholen?«
Mom hielt das für eine faire Frage, denn sie faltete die Hände und sagte: »Ich gebe zu, dass Miss McHenry akademisch gesehen im Vergleich zu den anderen eurer Klasse im Rückstand ist. Aus diesem Grunde wird sie viel mit den jüngeren Schülerinnen lernen.«
Bex grinste mich an, aber selbst der Gedanke an Maceys Supermodelbeine, die eine Klasse mit Neulingen weit überragen würden, änderte nichts an der Tatsache, dass ihr in diesem Augenblick zwei kahl geschorene Typen (auf die womöglich ein Kopfgeld ausgesetzt war) Platz in unserem Zimmer verschafften. Die Frage im Gesicht meiner Mutter war: Wären wir bereit, ihr auch einen Platz in unserem Leben einzuräumen?
Ich sah meine besten Freundinnen an und wusste, dassunser Auftrag der war, uns mit Macey McHenry anzufreunden. Das gute Mädchen in mir wusste, dass ich zumindest versuchen sollte, ihr beim Einleben zu helfen. Die Spionin in mir wusste, dass ich einen Auftrag hatte und – falls ich jemals das zweite Untergeschoss sehen wollte – lieber grinsen und »Ja, Madam« sagen sollte. Die Tochter in mir wusste, dass ich gar keine andere Wahl hatte.
»Wann fängt sie an?«, fragte ich.
»Am Montag.«
Am Sonntagabend saß ich bei meiner Mutter im Büro und verspeiste mit ihr Pommes und Chicken-Nuggets. Für die Mahlzeiten am Sonntagabend gab es eine feste Regel – Mom musste sie selbst zubereiten, was ja ganz nett war, aber nicht gerade gut für meinen Magen. (Dad hatte immer gesagt, das Gefährlichste an meiner Mutter seien ihre Kochkünste.) Direkt unter uns aßen meine Freundinnen die feinsten Sachen, die ein Fünf-Sterne-Koch auf den Tisch bringen kann, aber da meine Mutter in einem alten Sweatshirt meines Vaters herumlief und selbst wie ein Teenie aussah, hätte ich nicht um alle Crème Brûlées der Welt mit ihnen tauschen wollen.
Als ich an die Gallagher Akademie gekommen war, hatte ich ein schlechtes Gewissen gehabt, weil ich meine Mutter jeden Tag sehen konnte, während meine Mitschülerinnen monatelang ohne Eltern auskommen mussten. Aber irgendwann hatte ich keine Schuldgefühle mehr. Schließlich können Mom und ich die Sommerferien nicht miteinander verbringen. Und vor allem haben wir keinen Dad.
»So – wie läuft’s in der Schule?«, fragte sie wie immer, als ob sie es nicht wüsste. Aber vielleicht wusste sie es ja wirklichnicht. Oder sie wollte die Geschichte wie jeder gute Agent aus verschiedenen Blickwinkeln erfahren, bevor sie sich selbst eine Meinung bildete.
Ich tunkte ein Nugget in die Honigsenfsoße und sagte: »Gut.«
»Was macht die GehOp-Stunde?«, fragte die Mutter, aber mir war klar, dass die Schulleiterin wissen wollte, ob der neue Lehrer etwas taugte.
»Er weiß über Dad Bescheid.«
Ich wunderte mich, woher der Satz plötzlich
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