Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Spittelmarkt

Spittelmarkt

Titel: Spittelmarkt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernwald Schneider
Vom Netzwerk:
Zeit lag ich wach und wurde von erotischen Bildern gequält; Bilder, in deren Mittelpunkt eine schöne, nackte Artistin stand. In meiner Fantasie sah ich sie vor mir, wie sie in einer akrobatischen Meisterleistung mit einem Partner, der die Gesichtszüge des unbekannten Barbesuchers vom Abend trug, einen ausgedehnten Liebesakt hoch über den Köpfen eines frenetisch applaudierenden Publikums vollzog.
    Am nächsten Morgen unternahm ich gleich nach dem Frühstück einen Spaziergang die Fifth Avenue hinunter und ging so lange in Richtung Süden, bis ich die Stelle wiedergefunden hatte, wo Irene aus dem Wagen gestiegen war. Beim Weitergehen in östliche Richtung stellte ich schnell fest, dass im Umkreis des Ortes, wo ich sie aus den Augen verloren hatte, eine ganze Reihe von Hotels existierten, in denen sie hätte abgestiegen sein können, viel zu viele, um vernünftigerweise in dem einen oder anderen dieser Häuser nach ihr zu fragen.
    Tief hinab in die Straßen, durch die ich schritt, fiel das Licht der Mittagssonne, und da es den Grund kaum erreichte, war mir dabei, als ob ich mich durch enge Schluchten bewegte, durch Schattentäler, in die der helle Sonnenstrahl nicht fand. Und doch herrschte hier reges Leben, das zur Atmosphäre nicht so wirklich passen wollte, sodass ich mich zuweilen wie auf einem anderen Stern fühlte.
    Fasziniert blieb ich stehen, als ich eine Fassade erblickte, die wie eine eindimensionale Markise aussah und in ihrer ganzen Art an einen venezianischen Palast denken ließ, einen mit Steinveranden, Balkons und tief liegenden Fenstern. Eine Anzeigetafel verriet, dass sich in dem Gebäude ein Filmpalast befand. Sowie ich las, dass es dort den Horrorfilm ›Frankenstein‹ mit Boris Karloff in der Rolle des vom Menschen erschaffenen Monsters zu sehen gab, löste ich kurz entschlossen eine Karte für die Vorstellung, die bald beginnen sollte.
    Hinter der Sperre des ›Paradise‹, so der Name dieses fantastisch anmutenden Filmtheaters, schloss sich ein Vorraum in Gestalt eines spanischen Innenhofs an, dessen Fußboden Mosaike zierten und an dessen Wand ein marmorner Springbrunnen voller Goldfische plätscherte. Dahinter gelangte ich in eine Halle mit Kronleuchtern und einer Schildbogendecke, voll mit Büsten von Göttern, Zauberern und Meerjungfrauen. Doch nichts vermochte mich auf den irrwitzigen Garten hinter den Wänden des Zwischengeschosses vorbereiten. Hoch über meinem Kopf überspannte ein Nachthimmel den Raum, dessen imposante Wolken über ein geblähtes Sternenzelt segelten. Es umgaben mich Pappeln und fliegende Tauben. Einem Palazzo gleich schirmten die Seitenwände ein offenes Dach, sodass ich beim Hochschauen das unheimliche Gefühl hatte, gleichzeitig draußen und drinnen zu sein.
    Es wäre mir völlig egal gewesen, welchen Film es in diesem Ambiente zu sehen gab; allerdings hatte ich auch in dieser Hinsicht keine schlechte Wahl getroffen. Frankenstein erinnerte in seiner expressionistischen Art an den deutschen Film ›Das Cabinet des Dr. Caligari‹, was mich während des Zuschauens veranlasste, immer wieder unsichtbare Szenen zu finden, Darstellungen irgendwelcher Scheußlichkeiten, bizarrer oder auch erotischer Details, die womöglich in und durch Schatten verborgen wurden. Je aufmerksamer ich den Film verfolgte, umso stärker beschlich mich das Gefühl, dass die Kunst des Versteckens auch im Kinofilm eine mir bisher zwar unbekannte, aber durchaus gängige künstlerische Attitüde war.
    Der Nachmittag war weit vorangeschritten, als ich wieder in meinem Zimmer im Plaza saß, um den Entwurf für die mit Florence zu treffende Scheidungsvereinbarung fertigzustellen. Anschließend nahm ich ein Bad und gönnte mir ein Stündchen Ruhe, um für die Nacht gut gerüstet zu sein. Die Zeit verging rasch, und nachdem draußen längst die Dunkelheit hereingebrochen war, trat ich voller Erwartung hinaus auf die Straße, die sich in einen sprühenden Funkenregen von Lichtern verwandelt hatte.
    Es leuchtete, flackerte, bebte und waberte um mich herum, wechselte wieder die Farbe und sprühte erneut. All das so intensiv, dass es mir schier den Kopf verdrehen wollte. Autos blinkten hupend neben mir auf, Menschenmengen wühlten sich über den Bürgersteig, Männer und Frauen nahmen neben mir für Momente Gestalt an, mit Gesichtern, die sofort wieder in der Flut der Eindrücke und Bilder untergingen.
    Ich ließ mich von einem Taxi die Fifth Avenue hinunter zum Ort der Verabredung fahren, bat den Fahrer,

Weitere Kostenlose Bücher