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Spittelmarkt

Spittelmarkt

Titel: Spittelmarkt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernwald Schneider
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Notdürftigkeit, dass sich einem unwillkürlich der Eindruck aufdrängte, jedes weitere Fitzelchen Stoff hätte das Kleid unbezahlbar gemacht.
    Shannon schluckte und stieß mit heiserer Stimme hervor: »Meine Liebe, Sie sehen wirklich atemberaubend aus. Die anderen Damen werden vor Neid erblassen.«
    Sie warf ihm nur einen aufmunternden Blick ihrer strahlenden Augen zu, reichte ihm dann den einen und mir den anderen ihrer langen Arme und ließ sich so von uns beiden in das Innere der Wohnung geleiten.
    Wir betraten den Lichterglanz eines weitläufigen Raums, in dem schon 30 oder 40 Personen versammelt waren; Männer in Smokings und Frauen in luftigen Abendkleidern, die in kleinen Grüppchen mit silbernen Cocktails in den Händen beieinanderstanden; Gesichter, die uns anstarrten; Stimmen, die bei Irenes Anblick vor Entzücken, wenn nicht vor Schreck verstummten; Irene selbst tat so, als bemerkte sie es nicht.
    »Meine deutschen Freunde!«
    Mit diesen Worten stellte Shannon uns der versammelten Abendgesellschaft vor. Sowie er mit uns die Runde machte, nannte er Namen und ließ uns die Hände seiner Gäste und Freunde schütteln. Mit dem Drink, den man ihr gereicht hatte, in der Hand, war Irene Varo ein einziger Ausdruck der Selbstgewissheit, während sie sich durch die von ihrem Anblick energetisierte Menge schob.
    Ganz unbefangen nahm sie das Zusammenspiel der Blicke wahr, das ihre Erscheinung hervorgerufen hatte, setzte sich ungeniert den Augen derer aus, die sie wie Nahrung zu verschlingen suchten; namenlose Gesichter, die entweder sprachlos blieben oder in Floskeln erstarrten. Sie aber lächelte, und es war augenfällig, dass sie keinerlei Skrupel dabei empfand, die schockierende Schönheit ihres makellosen Ebenmaßes in dieser Weise zur Schau zu stellen.
    Der Raum, durch den Shannon uns führte, erstreckte sich über zwei Ebenen. Auf einem weißen Marmorfußboden, der eindrucksvoll mit dem schwarzen Mahagoni des Inventars und der Wandvertäfelung kontrastierte, standen grüne Ledersessel neben niedrigen Rauchtischchen. Die meisten der Sessel waren besetzt. An den Wänden hingen Werke zeitgenössischer Amerikaner, große farb-kühne Gemälde, die ambitionierte Kunstrichtungen vertraten. Im hinteren Teil des Saals spielte ein kleines Orchester leichte Schlager und gängigen Jazz; Piano, Schlagzeug und Saxofon.
    Shannons Bemerkungen nach zu urteilen, mit denen er den einen oder anderen seiner Gäste vorstellte, gehörten die meisten seiner Bekannten der Finanzwelt oder der Unterhaltungsbranche an; bei anderen, deren Herkunft er im Unklaren ließ, konnte ich mich des Gedankens nicht erwehren, dass wahrscheinlich die halbseidene Welt ihr angestammtes Zuhause war.
    Eine seiner Freundinnen, eine hübsche blonde Frau vom Typus der amerikanischen Girls, verharrte am Arm eines dunkelhaarigen Gigolos. Sie wurde durch Irenes Auftritt abrupt vom Sockel der Party-Schönen mit dem gewagtesten Kleid hinabgestoßen und fasste den Mut, die Sprachlosigkeit der meisten Blicke zu überwinden. Nicht ohne eine Spitze im Ton bemerkte sie süffisant: »Ihr Kleid, meine Liebe, sieht aus, als hätten Sie sparen müssen. War es denn so teuer?«
    Irene blickte an sich hinunter. Die aufmerksame und zugleich nachlässige Art, wie sie lächelnd ihre gertenschlanke Nacktheit betrachtete, schloss trotz der frechen Selbstgefälligkeit, die darin lag, nichts Hochmütiges oder Unangemessenes in sich ein, so als sei ihre Schönheit keine Gnade der Götter, sondern ein persönliches Verdienst.
    »Man soll das Beste, was man hat, auch zeigen«, erwiderte sie, bevor ihre langen Finger provokant unter den Saum des Stoffes fuhren, der die kleine feste Brust nur unvollständig und die zarte Haut über den durchschimmernden Rippen überhaupt nicht bedeckte. »Deshalb habe ich der Schneiderin sogar Geld dafür bezahlt, dass sie den Stoff überall da entfernt, wo er verzichtbar ist«, sie lachte, »und noch ein wenig darüber hinaus.«
    In diesem Moment bemerkte ich Florence Arnheim, die ganz in der Nähe in einer kleinen Gruppe von Gästen stand.
    Ihr Gesicht war schmaler, da hatte meine Erinnerung mir einen Streich gespielt, die durchscheinend zarte Haut anämisch bleich. Sie trug kein Make-up, außer einem orangeroten Lippenstift, der nur dezent aufgetragen war. Ihre Augen waren groß und kobaltblau, lagen tief in ihren Höhlen. Sie hatte ein beigefarbenes Leinenkleid an, das sich von der Abendgarderobe der meisten anderen Frauen deutlich unterschied, ihrer

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