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Spittelmarkt

Spittelmarkt

Titel: Spittelmarkt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernwald Schneider
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hätte ich nicht tun sollen, denn nun sah ich das nächtliche New York in unnatürlichen, schrecklichen und nie zuvor gesehenen Farben schillern. Hinter und über den Häusern zuckte ein furchtbares Wetterleuchten auf, ein glühendes, rasch spähendes Riesenauge, während aus den Fenstern der Häuser wilde Flammen schlugen.
    Bestürzt richtete ich den Blick von der Skyline weg zurück in den Raum. Plötzlich fühlte ich mich wie auf einem Maskenball zur Faschingszeit. Was war nur mit mir los? Glücklicherweise entdeckte ich ganz in der Nähe einen Stuhl; zwei, drei feste Schritte und ich ließ mich erleichtert auf dem Polster nieder. Mir war nicht schlecht, jedoch schlug mein Herz heftig, und damit war dieses einmal angenehme, dann wieder äußerst peinigende Schwindelgefühl verbunden.
    Ich war mir sicher, dass ich unter dem Einfluss irgendeiner Droge stand. Wenn das stimmte, so wanderte es mir messerscharf durch den Sinn, konnte diese Droge nur in dem Cocktail gewesen sein, den Irene mir vor zehn Minuten – oder war es schon länger her? – überreicht hatte.
    Ich versuchte, meinen Blick auf die Faschingsgäste zu konzentrieren. Wo war sie? Wo war Irene? Wo war ihr entzückender nackter Rücken? Alles war bunt – zu bunt –, zu unwirklich und fantastisch; beeindruckend war jedoch die Pracht und Herrlichkeit, inmitten derer ich mich befand. Über allen Menschen und Gegenständen im Raum lag ein jadeartiges glasiges Leuchten. Immer wieder entdeckte ich Neues, bisweilen auch Altes neu, Details, die explosionsartig mein Gesichtsfeld erreichten. Selbst die unbedeutendsten Dinge erhielten plötzlich eine schöne, wenngleich erschreckende Lebendigkeit. Ich fühlte mich wie Alice im Wunderland. Gottlob schien mich niemand im Raum zu beachten oder sich an meiner teilnahmslosen Zurückgezogenheit zu stören. Nachdem ich eine gewisse Zeit – wie lange auch immer das war – dumpf und zugleich wie verzaubert auf meinem Stuhl gesessen hatte, ohne dass mich jemand ansprach oder belästigte, überkam mich unerwartet eine heitere Zuversicht.
    Das Schwindelgefühl war mit einem Mal weg und ich fühlte mich viel besser als noch vor ein paar Minuten, fühlte mich sogar ausgezeichnet, fast schon allmächtig. Das Meer der Gäste teilte sich vor mir, als ich aufstand, um mich auf die Suche nach Irene zu begeben, denn jetzt wollte ich sie haben, wollte sie fassen, ihr den Fetzen vom Leib reißen und sie irgendwo auf ein Bett werfen. Ich ging wie in Trance, doch in keinem der beiden Räume, auf die sich die Party konzentrierte, erfasste ich auch nur den Abglanz ihrer reizenden, halb nackten Gestalt.
    Durch die Flügeltür trat ich in den Gang hinaus. Bilder alter Meister, erhellt von verdeckten Leuchtern, begleiteten mich auf meinem weiteren Weg. Es war ein Weg, der mir vorkam wie der freie Gang durch einen luziden Traum. Er führte um eine Ecke herum und endete vor einer verschlossenen schwarzen Tür. Ich drückte auf die Klinke; die Tür war nicht verschlossen und so ging ich einfach hindurch.
    Vor mir lag ein verschattetes, nur schwach erleuchtetes Treppenhaus. Von unten schimmerte Licht herauf, aber auch von oben drang es herab. Ein Rest von Vernunft riet mir, die Gesellschaft für eine Weile zu verlassen. So stieg ich ein paar Stufen hinab und sah, dass das Licht von schwachen Lampen kam, die in gleichmäßigen Abständen nach jeder Rundung der Treppe installiert waren. Ich folgte der Treppe zwei, drei Rundungen nach unten, dann blieb ich wieder stehen und schaute zurück.
    Es ergab sich ein Bild, als würde sich das Treppenhaus auch nach oben um zahlreiche Wendungen in unendliche Höhen erstrecken, doch das musste eine Sinnestäuschung sein, denn mehr als zwei oder drei Stockwerke konnte es ja über Shannons Wohnung nicht mehr geben. Ich stieg eine weitere Windung nach unten und noch eine, seltsamerweise gab es keine weiteren Türen, wodurch der Eindruck entstand, als ob das Treppenhaus von der Straße direkt in Shannons Wohnung hinaufführte.
    Weiter stieg ich abwärts, Runde um Runde, sah nichts außer schwache Lampen, Mauerwerk und kalten Beton. Runde um Runde wandelte ich tiefer, ohne dass sich irgendetwas änderte oder die Wendeltreppe ein nächstes Ziel anlief. Ich ging nun schneller und brachte weitere Runden hinter mich, bevor ich wieder stehen blieb. Wie weit unten mochte ich mich befinden? Hätte ich denn nicht längst den Grund des Hauses erreicht haben müssen? Ich überlegte, wie lange man gehen musste, um 18

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