Splitter im Auge - Kriminalroman
lag nun vor ihm auf dem Tisch eines Cafés, und Steiger wartete, dass die Kellnerin seinen Kaffee brachte. Er versuchte, seinen Ärger in den Griff zu bekommen und dem Alten nicht von vornherein alle Chancen zu nehmen, aber schon die ganze Nummer mit Notar und Brief ging ihm gehörig gegen den Strich. Als der Kaffee kam, nahm er Milch und Zucker, dann öffnete er den Umschlag. Es war die kantige, spröde Handschrift seines Vaters, das erkannte er sofort. Hatte der Alte sich kurz vor Toresschluss tatsächlich aufgerafft, ihm den ersten Brief seines Lebens zu schreiben. Reichlich spät, fand Steiger.
Lieber Thomas,
wenn du diesen Brief liest, werde ich nicht mehr am Leben sein. Keine Angst, es wird keine Generalabrechnung wegen all der Dinge, die zwischen uns passiert sind oder eben nicht passiert sind. Diesen Brief schreibe ich aus einem anderen Grund.
Du wirst nun schon von Dr. Brosig die Nachricht bekommen haben, dass du einen Halbbruder hast. Ich habe diesen Weg gewählt, weil ich wollte, dass es dir jemand persönlich sagt und du es nicht einfach schriftlich erfährst. Ich selbst hätte es nicht gekonnt, aber dazu später mehr.
Ja, wie soll ich beginnen? Vielleicht einfach mit den Tatsachen.
Es gab neben deiner Mutter eine zweite Frau in meinem Leben. Du wirst mich dafür verurteilen, da bin ich mir sicher, aber wenn es dir etwas bedeutet, will ich dir sagen, dass es keine Affäre war, sondern dass ich diese Frau geliebt habe. Du warst damals sechs Jahre alt und Carola zehn. Dann wurde Mara, so hieß die Frau, Mara Stojkovic, schwanger, und einen Monat später starb Carola bei diesem schrecklichen Unfall. Um es kurz zu machen: Ich blieb in dieser grauenhaften Situation bei meiner Familie. Natürlich habe ich Mara und ihren Sohn, den sie Artur genannt hat, finanziell unterstützt. Fünf Jahre später war die Beziehung zu Mara beendet. Ich habe ihr allerdings weiter Geld gegeben, bis der Sohn achtzehn Jahre alt war. Jetzt ist er ein Mann von fünfundvierzig Jahren und lebt hier in Dortmund, so viel hat Dr. Brosig schon herausgefunden. Ich habe ihn zuletzt gesehen, als er fünf war. Er weiß bis heute nicht, wer sein Vater ist, jedenfalls hat Mara mir das erzählt, als ich Ende der Neunzigerjahre zuletzt mit ihr gesprochen habe. Sie ist 2002 gestorben.
Siebenundzwanzig Jahre war das alles aus meinem Leben verschwunden, aber ich denke, wenn ich sterbe, werde ich ein letztes Mal Verantwortung für diesen Sohn übernehmen müssen und ihn an dem beteiligen, was ich zurücklasse. Viel wird es ohnehin nicht sein.
So, nun kennst du meine Geschichte mit Mara und mit ihrem Sohn, der dein Halbbruder ist. Gewusst haben davon außer Mara und mir selbst nur mein Bruder und ein guter Freund von mir aus alten Gewerkschaftstagen. Deine Mutter hat nie etwas davon erfahren.
Vielleicht wirst du mich für das, was ich getan habe, noch mehr verachten, als du es ohnehin immer getan hast. Ich habe es damals aus den erklärten Gründen nicht erzählt und später wahrscheinlich deshalb, weil es nicht mehr nötig war, weil ich nicht erwartet habe, dass du es verstehst, und weil ich, ehrlich gesagt, zu feige war. Jetzt kam ich aber nicht mehr drum herum. Es dir persönlich zu sagen, habe ich immer noch nicht fertiggebracht, wie du gesehen hast. Vielleicht verstehst du es aber irgendwann auch ein wenig.
Wir beide haben es uns im Leben sicherlich nicht leicht gemacht miteinander, und ich will auch jetzt nicht so tun, als sei das anders gewesen. Ich habe einen Anteil daran, das weiß ich, und ich hätte es mir manchmal auch anders gewünscht. Aber mein Talent als Vater war zweifellos nicht meine größte Gabe, das habe ich immer gewusst. Du hast darunter sicher mehr gelitten als deine Schwester bis zu ihrem frühen Tod. Leider war ich nicht in der Lage, etwas daran zu ändern, und jetzt ist es dafür zu spät. Vielleicht kannst du glauben, dass es mir leidtut.
Artur
Steiger legte den Brief zur Seite und nahm einen Schluck Kaffee. Er hätte erwartet, dass er zornig würde oder enttäuscht wäre oder dass er den Alten zum Teufel wünschen würde. Aber er hatte den Eindruck, als fühle er nichts, außer vielleicht einem schwachen, innerlichen Brennen, einem Brennen, wie man es spürt, wenn man sich ein Pflaster abreißt, aber das konnte auch vom Kaffee kommen. Irgendwann würde er auf das schwarze Zeug verzichten müssen.
Er versuchte sich zu erinnern, ob es damals irgendein Anzeichen gegeben hatte, das auf dies alles hätte schließen
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