Splitter im Auge - Kriminalroman
Wahrscheinlich war beides der Fall.
»Herr Adam? Herr Dr. Brosig hat jetzt Zeit für Sie.« Die Frau lächelte ihn an und hielt ihm einladend die Tür auf.
Steiger ging an ihr vorbei, roch ihr herbes Parfum, durchquerte den Raum zur gegenüberliegenden Tür und ging hinein.
Brosig war älter, als er erwartet hatte, jedenfalls dem Gesicht nach. Steiger schätzte ihn auf mindestens siebzig. Aber er war schlank, braungebrannt, hatte weißes, kurzes Haar und einen Schmiss, in dem Steigers Zeigefinger Platz gefunden hätte. Steiger hatte keine Ahnung, wie sein Vater auf Brosig gekommen war. Zu Gewerkschaftszeiten wäre er jedenfalls ganz auf der anderen Seite gewesen. Der Notar stand auf, kam um den alten Schreibtisch herum und begrüßte Steiger mit Handschlag. Auch seine Bewegungen waren jünger.
»Sie werden sich sicher schon gefragt haben, warum ich Sie noch vor der Testamentseröffnung, ja, sogar vor der Beerdigung um ein Treffen bitte«, sagte Brosig, als er wieder hinter dem Schreibtisch saß. »Ich könnte mir sogar vorstellen, dass Sie es als pietätlos empfinden, aber dass dieses Gespräch mit Ihnen so schnell wie möglich nach dem Ableben Ihres Vaters stattfindet, war sein Wunsch.«
»Vor allen Dingen habe ich keine Ahnung, worum es gehen könnte«, sagte Steiger und setzte sich.
Brosig nickte, lächelte zaghaft und beugte seinen Oberkörper nach vorn.
»Eigentlich übernehme ich damit eine Pflicht, die in meinen Augen Ihrem Vater zugestanden hätte, wenn Sie mir die Bemerkung erlauben, Herr Adam, aber in meinem Beruf ist das nichts völlig Ungewöhnliches.«
»Könnten wir mit der Geheimniskrämerei nicht einfach Schluss machen, Herr Dr. Brosig? Worum geht es?«
Der Notar machte noch einmal eine kleine Pause. »Gut, Herr Adam. Da ich auch der Nachlassverwalter Ihres Vaters bin, könnte ich es von der Seite her aufziehen, gesetzliche Erbfolge und diese Dinge, denn da werden Sie sich wie die meisten Leute nicht so auskennen.« Brosig sah Steiger an, der nickte. »Sehen Sie. Es hat zwar tatsächlich auch mit der Erbschaft zu tun, aber in Wahrheit ist es eigentlich eine höchstpersönliche Familienangelegenheit.«
Steiger sah den Mann an und verkniff es sich, ihn noch einmal zu bitten, zur Sache zu kommen.
»Sie gehen vermutlich davon aus, Herr Adam, dass außer einem Onkel, also einem Bruder Ihres Vaters, keine Verwandten mehr existieren. Damit wären Sie selbst dann als Erbe erster Ordnung der allein Berechtigte auf den Nachlass Ihres Vaters, wenn er es nicht sowieso im Testament so verfügt hätte. Aber ganz so ist es nicht. Um es kurz zu machen …«
Na endlich, dachte Steiger.
»Ihr Vater hat das Erbe zu gleichen Teilen auf die beiden existierenden Erben erster Ordnung verteilt, nämlich auf Sie und auf seinen zweiten Sohn, Ihren Halbbruder.« Der Notar zog die Augenbrauen hoch und lehnte sich mit gespannter Miene in seinem Sessel zurück.
Steiger kannte solche Situationen aus seinem Job zur Genüge, wenn jemand mit einer Nachricht konfrontiert wurde, die sein bisheriges Leben nicht nur infrage, sondern manchmal völlig auf den Kopf stellte. Oft genug war er der Überbringer solcher Nachrichten gewesen und hatte erlebt, dass Menschen im ersten Moment reagierten, als sei nichts geschehen, als sei alles beim Alten geblieben, als habe niemand etwas gesagt. Sie boten einem etwas zu essen an oder sagten, dass das nun gar nicht passe, weil man gerade den Hausputz erledigen müsse. Eine verständliche Taktik des Hirns, hatte er sich das immer zu erklären versucht. Wenn einem etwas seine schöne alte Welt in Stücke schlug und sofort eine neue hinstellte, wenn man sich von einem Moment auf den anderen in seinem Kopf überhaupt nicht mehr zu Hause fühlte, tat man erst mal besser so, als existiere dieses Neue gar nicht, als begreife man es nicht.
Steiger begriff es sofort. »Dieser verdammte alte Drecksack«, sagte er, stand auf und verließ Brosigs Büro.
14
Brosig hatte Steiger im Treppenhaus eingeholt und gebeten zu bleiben. Zum einen gab es noch ein paar Fragen wegen der Testamentseröffnung zu klären. Steiger hatte sich überzeugen lassen, und es war ein gutes Gespräch gewesen, bei dem der Notar ein menschliches Interesse gezeigt hatte, das Steiger einem alten Rechtsverdreher, der zudem noch mit Leuten verkehrte, die sich gegenseitig Kerben ins Gesicht schlugen, nicht zugetraut hätte. Viel wichtiger aber war, dass Brosig Steiger noch einen Brief seines Vaters übergeben hatte.
Dieser Brief
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