Splitter im Auge - Kriminalroman
glaube nicht«, sagte sie schließlich. Steiger verabschiedete sich und ging.
Auf der Uhr im Auto war es fast vier, da kam es auf eine Viertelstunde mehr oder weniger auch nicht mehr an. Er steckte sich einen Zigarillo an und fuhr los. Wenn er die Fenster offen ließ, würde man es nicht riechen.
Am Eingang standen zwei Männer mittleren Alters, die Steiger wie einen alten Freund begrüßten und von ansteckendem Frohsinn waren. Ihm kam der Gedanke, dass es vielleicht doch einen Zusammenhang gab zwischen gelebter Fröhlichkeit und dem Umstand, einen an der Waffel zu haben.
Im Gebäude herrschte eine ähnliche Stimmung, er hätte aber nicht sagen können, wodurch. Den meisten sah man an, dass sie behindert waren, aber es war etwas Unbeschwertes auf den Fluren. In einem Raum im Erdgeschoss fand er jemanden, der wie ein Betreuer aussah, und er hatte Glück: Wolfram Gruber war im Dienst und kam nach einem kurzen Telefonat den Gang entlang. Steiger schätzte ihn auf etwa vierzig, und der Mann sah aus, als treibe er viel Sport.
»Und Sie kommen von wo?«, fragte Gruber, nachdem sie in eine kleine Küche gegangen waren.
Steiger erklärte es ihm und auch den Grund seines Besuches, allerdings in Kurzform.
»Tja, der Bernhard«, sagte Gruber und machte schlagartig ein Beerdigungsgesicht. »Das war eine Sache, die mich bis heute fertigmacht. Ich kann das immer noch nicht glauben, dass er das getan haben soll, aber so wie die Dinge liegen …«
»Wie lange kannten sie Bernhard Fleischhauer?«, fragte Steiger.
»Ich habe elf Jahre mit ihm zusammen gearbeitet, und man hat zu manchen Männern und Jungen einen intensiveren Kontakt und zu manchen nicht. Der zu Bernhard war sehr intensiv.« Er lächelte traurig und erzählte noch ein paar Dinge aus dem Leben Bernhard Fleischhauers, die fast klischeehaft nach einem sanften Riesenbaby klangen.
»Gab es irgendetwas in seinem Verhalten, was vorher darauf hingedeutet hat, dass er so etwas machen könnte?«
Gruber sah Steiger länger an.
»Wissen Sie, Herr Adam, viele der Jungen hier haben dieselben Bedürfnisse und Schwächen wie Sie und ich. Aber es gab zwei Dinge, die in Bernhards Leben in den elf Jahren, in denen ich ihn kannte, nicht stattfanden. Und das waren Sexualität und Gewalt.«
37
Steiger hatte es geahnt. Schon in der Schule hatte man Wetten darauf abschließen können, dass er immer, wirklich immer drankam, wenn er seine Hausaufgaben nicht gemacht hatte. Und in den dreißig Jahren bei der Polizei war es nicht anders gewesen. Gleich zu Anfang, an einem Wochenende in der Bereitschaftspolizei, an dem sie wegen einer Terroristenwarnung die Unterkunft nicht verlassen durften, hatten sie nur kurz abends einmal zwei Schwestern besucht. Eine der ganz wenigen Gelegenheiten, bei der auf dem Gebiet etwas gemeinsam mit Batto gelaufen war, ansonsten hatte der immer in einer anderen Liga gespielt. Steiger war damals früher gegangen und war gegen Mitternacht beim Übersteigen des Zauns der Unterkunft von einem der Gruppenführer erwischt worden. Als Batto gegen fünf in derselben Nacht zurückkam, hatte der Mann längst geschlafen.
Steiger wunderte sich also nicht, dass er vor Gisas Schreibtisch saß, sie ihm schöne Grüße von der Kollegin Bartling aus Essen bestellte und dabei klang wie das Zischen eines Dampfdrucktopfes.
»Außerdem habe ich keine Lust, ständig Besuche von Schulze und Rüter zu bekommen, kannst du das nachvollziehen?« Sie machte eine Pause, aber Steiger nahm nicht an, dass sie ernsthaft eine Antwort erwartete. »Ich habe keine Ahnung, was mit dir los ist, Steiger. Sie haben dich in den letzten Jahren sicherlich ein paarmal verarscht in dieser Behörde, nur ganz schuldlos bist du daran auch nicht mit deinen Eskapaden. Ich kann mich aber nicht immer vor dich stellen, und ich will das auch nicht. Was dir bei diesem Ding allerdings durch den Kopf fliegt, weiß ich beim besten Willen nicht.«
»Ich kann es dir auch nicht genau sagen«, antwortete er und versuchte, ehrlich zu klingen. »Es hat nichts mit dem Verstand zu tun.«
»Genau das Gefühl habe ich auch, mit Verstand hat das überhaupt nichts mehr zu tun. Weil du deinen zurzeit irgendwo abgegeben hast.«
Sie griff in eine Schublade des Schreibtisches und ließ die Kopie der Akte so heftig auf die Platte fallen, dass ein Bleistift durch die Luft flog.
»Das haben wir in deinem Schreibtisch gefunden. Erklär mir das bitte!«
»Ja, und? Das ist die Kopie der Akte einer Mordkommission, an der ich
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