Splitter
Obdachlose schien seine Kleidung zu pflegen, so gut es ihm die Umstände seines Lebens auf der Straße erlaubten. Damit machte er es seinen Mitmenschen leicht, sein Elend zu übersehen; denn nur, wer ihm näher kam, erkannte die bröckelnde Schmutz schicht, die den einst teuren Baumwollmantel überzog, und die groben Flicken, unter denen ein viel zu großes Sakko durchschimmerte. Und erst dann roch man den süßlich-ranzigen Körpergeruch, ein weiteres Indiz dafür, dass der Mann keinen festen Wohnsitz hatte. »Keine Sorge, ich hab nichts gesehen, Kumpel«, sagte der Mann mit einem zahnlosen Lächeln.
»Okay, es ist nämlich auch nicht so, wie es aussieht. Ich bring die Frau gleich ins Krankenhaus.«
Marc griff Emma unter beide Arme und zog sie mit letzter Kraft hoch. Ihr Atem ging schnell und flach. Der Obdachlose nickte nur und sah Marc unbekümmert zu, wie er sich mit seiner Last plagte. Erst als es ihm gelungen war, Emma um das Auto herumzuschleifen, die Beifahrertür zu öffnen und sie dort auf dem Sitz anzuschnallen, fing der Alte leise an zu lachen. »Mannomann, das ist eine Nacht, was?« Marc drehte sich zu ihm herum und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Hören Sie, wenn Sie Geld wollen, dann tut es mir leid. Ich bin auch pleite.« Er vergewisserte sich, dass Emmas Kopf nicht nach vorne kippen konnte, und schloss die Beifahrertür. »Ich weiß.«
Marc, der gerade zur Fahrerseite gehen wollte, blieb stehen.
»Woher?«, fragte er.
»Tut mir leid, ich hab nachgesehen. Aber es war nichts drin. Hier.«
Der Penner streckte ihm seine dreckige Hand entgegen. Von vier Fingern hatte nur noch einer einen Nagel. Der Daumen fehlte völlig, doch das war nicht das, was Marc so irritierte. Er starrte ungläubig auf die Brieftasche, dabei tastete er seine Taschen ab, nur um sicherzugehen, dass es wirklich sein Portemonnaie war, das der Obdachlose ihm gerade zurückgeben wollte.
»Freddy hat es gefunden. Er schnappt sich gerne Dinge, die auf dem Boden herumliegen. Nicht wahr, mein Kleiner?« Der Obdachlose tätschelte die Schnauze des Hundes, der sich sofort auf den Rücken legte in der Hoffnung, weitere Streicheleinheiten zu bekommen.
»Danke«, sagte Marc verwirrt.
»Keine Ursache. Ich bin ein ehrlicher Mensch, komm, Kleiner.« Er zog sanft an der Leine, und der Streuner stand wieder auf.
»Aber seien Sie das nächste Mal nicht wieder so laut«, lachte er, tippte sich an die Stirn und trollte sich. »J a, klar«, sagte Marc sinnloserweise, drehte das Portemonnaie in seiner Hand und steckte es ein. Hinter ihm begann Emma im Wagen zu wimmern. Offenbar war sie gerade dabei, das Bewusstsein wiederzuerlangen.
Marc stieg in den Käfer, legte den Gang ein und startete den Motor. Bevor er losfuhr, folgte er einem inneren Impuls und zog die Brieftasche noch einmal hervor. Er öffnete sie, um sicherzugehen, dass wenigstens sein Ausweis noch vorhanden war, einer der letzten Beweise seiner Identität. Zum Glück steckte er in dem dafür vorgesehenen Fach. Marc zog ihn hervor, um einen Blick auf sein altes Passfoto zu werfen, auf dem er so unendlich viel jünger und gesünder aussah als heute, aber dann spürte er einen Widerstand, und nachdem er den Ausweis ganz herausgezogen hatte, fiel ihm ein kleiner Notizzettel in den Schoß.
Was zum Teufel … ?
Er öffnete das gefaltete Papier und traute seinen Augen nicht.
Was ist das?
Er war sich sicher, den Zettel noch nie zuvor gesehen, geschweige denn in seiner Brieftasche aufbewahrt zu haben. Marc schaltete den Motor aus, löste hektisch seinen Gurt und stieg aus.
»Hey«, rief er in die dunkle Einfahrt hinein, in die der Penner eben verschwunden war. »Kommen Sie zurück.« Dann begann er zu rennen, obwohl er kaum noch die Kraft dazu hatte und er sich sicher war, was ihn am Ende seines Spurts in dem Hauseingang erwartete: nichts.
Sowohl der Hund als auch der Obdachlose, der ihm gerade eine handschriftliche Nachricht seiner verstorbenen Frau überbracht hatte, waren verschwunden.
44. Kapitel
Viele Menschen begehen den Fehler, alles wiederholen zu wollen. Sie geben sich nicht mit einer Erinnerung zufrieden, sie wollen die schönen Stunden ihres Lebens noch einmal erleben. Immer und immer wieder. Deshalb fliegen sie ein weiteres Mal zu dem Urlaubs ort, wo es ihnen so gut gefallen hat, sehen sich den Kinofilm gleich mehrfach an und schlafen mit dem Ex, obwohl sie glücklich in einer neuen Beziehung stecken. Nur um festzustellen, dass es in der Regel nie mehr so sein
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