Splitter
wird wie beim ersten Mal. Denn Glücksempfindungen sind nicht beliebig reproduzierbar. Man kann sie nicht per Knopfdruck abrufen. Paradoxerweise gilt das jedoch nicht für Schmerz, Leid und Qualen, wie Marc gerade erfahren musste. Schon einmal hatte er vor ihrem alten Zuhause gestanden. Schon einmal war er vor Trauer fast zerbrochen.
Er stieg aus dem Wagen und ließ Emma im Käfer zurück. Sie hatte sich geweigert, in die Notaufnahme gebracht zu werden, obwohl das Martin-LutherKrankenhaus auf dem Weg lag. Tatsächlich heilen die meisten Trommelfellverletzungen von alleine, er selbst hatte die Erfahrung nach einer Mittelohrentzündung machen müssen. Außerdem war es ihr Wagen, den er sowohl als Transport-und womöglich auch als Fluchtmittel benötigte. Selbst wenn Emma also paranoid war und seinen Bruder grundlos des Mordes verdächtigte, war sie derzeit die Einzige an seiner Seite, die den Wahnsinn bezeugen konnte, in dem er steckte. Schließlich konnte er ohnehin nicht mehr Freund von Feind unterscheiden, und da hielt er seine Feinde, wenn sie denn einer von ihnen war, besser unter Beobachtung.
Marc öffnete die Pforte zum Vorgarten. Das kleine, doppelstöckige Reihenendhaus schien immer noch zu atmen. Im Unterschied zu allen anderen perfekt verputzten Nachbarhäusern, deren akkurat gepflegte Gärten von wildschweinsicheren Zäunen gesichert wurden, wirkte Haus Nummer sieben leicht verwahrlost und gerade dadurch wie ein lebendiges Wesen. So wie ein unaufgeräumtes Kinderzimmer, dessen Wände mit Wachsmalstiften vollgekritzelt sind und das man um keinen Preis der Welt gegen ein Designerheim aus Schöner wohnen eintauschen will. Marc warf noch einmal einen Blick auf den Zettel, den er in seinem Portemonnaie gefunden hatte:
Wir treffen uns in derVilla Grunewald. Komm schnell. LOL - S.
Die schlichte Nachricht war unmissverständlich. Natürlich war sie kein Beweis dafür, dass sie noch lebte. Derartige Zettel hatte Sandra früher oft auf dem Küchentisch liegen gelassen:
Bin beim Sport Iss nicht zu viel Junk, ich koch uns heute was Gestern Nacht war wieder toll Denk an die Pfandflaschen Marc hatte irgendwann damit angefangen, seine Einzeiler mit »LOL« zu unterschreiben, in der irrigen Annahme, die Abkürzung bedeute »lots of love«. Sandra hatte schallend gelacht, als sie es zum ersten Mal las, denn tatsächlich benutzt man diese Buchstabenkombination, wenn man im Internetchat jemanden auslacht, wie sie ihm erklärte. Laughing out loud.p>
Seitdem war es zu einem Insider zwischen ihnen geworden, an nahezu jede Nachricht ein »LOL« zu hängen.
Das und die unverkennbare Handschrift waren eindeutige Hinweise darauf, dass Sandra diesen Zettel geschrieben hatte. Ein weiterer war der angegebene Treffpunkt. Ihr Reihenhaus in Eichkamp war alles andere als eine Villa, ebenfalls ein Insiderscherz zwischen ihnen.
Marc steckte das Papier wieder weg und zog stattdessen sein Schlüsselbund hervor. Die Haustür klemmte, aber das hatte sie schon vor Monaten getan. Im Inneren empfing ihn nicht der abgestandene Geruch, den er erwartet hatte. Es war kalt, die Heizung war auf die niedrigste Stufe gestellt, damit die Wasserrohre im Winter nicht einfroren, aber der typische Duft leerstehender Gebäude fehlte. Irgendjemand schien vor kurzem gelüftet zu haben und hatte bei dieser Gelegenheit auch gleich den Boden gewischt. Die schwarzen Schleifspuren, die die gummierten Beine der Couch beim Auszug auf dem Parkett hinterlassen hatten, waren verschwunden. »Hallo?«, rief er. In dem leeren Treppenhaus hallte seine belegte Stimme mit einem metallischen Rückklang von den nackten Wänden wider. Er setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen, als betrete er eine dünne Eisfläche und nicht das Wohnzimmer. Dabei war er sich nicht sicher, wovor er sich mehr fürchtete, alleine in dem Haus zu sein oder tatsächlich auf seine Frau zu treffen.
»Hallo?«, fragte er erneut, obwohl er am liebsten laut Sandras Namen gerufen hätte. Doch dazu fehlte ihm der Mut. An das Wohnzimmer schloss ein nachträglich angebauter Wintergarten an, durch dessen Fenster Marc nach draußen in den verwilderten Garten sah. Er hatte die Außenbeleuchtung eingeschaltet, und die kleinen Halogenstrahler wirkten wie ein Weichzeichner. Alles schien verschwommen und mit einer goldgelben Aura versehen. Die Obstbäume, ihre verfaulenden Früchte auf dem Rasen, der schilfüberwucherte Froschteich, der mehr mit Morast als mit Wasser gefüllt war.
Der Wind brauste auf und
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