Splitter
seine Anrufe und brach schließlich sogar die Schule ab, um keine Berührungspunkte mehr mit Marc zu haben.
Haberland sprach weiter mit Emma und versuchte ihr so einfach wie möglich die komplexe medizinische Problematik zu erläutern. »Ich weiß, es klingt ein wenig esoterisch, aber Sie haben sich doch gewiss auch schon mal die Hand vor die Augen gehalten, weil beispielsweise eine Filmszene so grausam war, dass Sie nicht hinschauen wollten.«
Der Professor wartete auf ein zustimmendes Nicken Emmas.
»Also können auch Sie die Qualen eines anderen zumindest nachempfinden. Die meisten von uns gewöhnen sich daran, wenn sie Tag für Tag mit schrecklichen Bildern konfrontiert werden. Wir sehen den frierenden Penner auf der Straße nicht mehr und wenden uns von der sabbernden Frau ab, die in der UBahn unverständliches Zeug brabbelt. Nach dem zehnten Horrorfilm halten wir uns auch nicht mehr die Hand vor die Augen.« Er machte eine Pause. »Die meisten Menschen stumpfen ab. Aber Benny ist anders.«
Emma sah zum Fenster hinaus, vor dem Marcs Bruder sich gerade eine Zigarette anzünden wollte. Seine Haare wehten im Wind, und er drehte sich zu den Bäumen vor der Veranda, um die Flamme des Feuerzeugs besser zu schützen. »Er kann nicht verdrängen«, sagte Haberland und sah nun auch nach draußen. »Für ihn wird es immer schlimmer. Wenn er an einem Krankenhaus vorbeifährt, überlegt er sich, wie viele Menschen dort gerade im Sterben liegen. Wenn er die Augen schließt, stellt er sich vor, was in dieser Sekunde alles auf der Welt geschieht, wovon wir morgen in der Zeitung lesen werden. Er sieht das ins Koma geschüttelte Baby, den Soldaten, dem die Genitalien bei der Folterung abgeklemmt werden, das Pferd, das im Tiertransport zum tunesischen Schlachthof verdurstet. Nichts von dem, was er gesehen, gehört oder gespürt hat, kann er je vergessen.« Haberland sah Marc unverwandt in die Augen. »So wie Sie, habe ich recht?«
Das Licht in dem Raum wurde schwächer, weil die Wolkendecke dichter geworden war.
»Nein, bei mir ist es nicht ganz so schlimm. Bei meinem kleinen Bruder war es immer ausgeprägter als bei mir. Vielleicht ist es mir deshalb gelungen, mein Helfersyndrom mit meiner Arbeit zu kompensieren.« Im Gegensatz zu Benny gelang es ihm mit der Zeit, auch die schlimmsten Bilder zu verdrängen. Der beste Beweis dafür war ja, dass er es nach einer Weile aufgegeben hatte, seinem Bruder hinterherzurennen. Er hatte vieles versucht, um wieder an ihn heranzukommen und ihn aus Valkas Fängen zu lösen; alles vergeblich. Bennys Kontaktsperre war so umfassend gewesen, dass Marc erst Monate später von dem ersten Selbstmordversuch erfuhr. Danach war er sogar zum Vormundschaftsgericht gegangen, um die Möglichkeiten auszuloten, Wie man Benny unter Betreuung stellen oder in psychiatrische Behandlung bringen lassen konnte. Damals hatte man ihm gesagt, solange sein Bruder keine Gefahr für andere darstelle, könne er mit seinem Leben machen, was er wolle. Im Nachhinein fühlte Marc sich trotzdem schuldig, denn vielleicht hatte er unbewusst aus Bequemlichkeit zu früh aufgegeben. Die Zeit mit Sandra damals war so unendlich viel unkomplizierter als das gewesen, was ihn mit Benny an seiner Seite erwartet hätte. Das Geschrei eines Vogels unterbrach seinen Gedankenstrom. Als Marc zum Fenster sah, war sein Bruder verschwunden.
»Okay, aber wie kommt es dann, dass eine angeblich so friedfertige Person mich umbringen wollte?«, fragte Emma aggressiv.
Marc schüttelte den Kopf. »Benny hat nicht einen einzigen gewalttätigen Knochen im Leib.«
»Bitte? Er hat mir ins Ohr geschossen! Und er hat mich mit der Pistole gezwungen, ihm hier raus in die Wildnis zu folgen.«
»Der Schuss war sicher ein Versehen«, erklärte Marc. »Er wollte Sie niemals verletzen. Dazu wäre er gar nicht in der Lage.«
»Das ist so leider nicht ganz richtig«, korrigierte Haberland und hob wieder die Hand. »Deshalb ist er ja auch so lange in der Zwangsunterbringung verblieben. Wie jede labile Persönlichkeit leidet auch Benny unter enormen Stimmungsschwankungen, die ihn schier zu zerreißen drohen. Es ist wie bei Manisch-Depressiven. Von der einen Sekunde zur anderen kann der Schalter umgelegt werden, und all das Leid, das Ihr Bruder über die Jahre in sich hineingefressen hat, drängt nach außen. Es bedarf nur eines kleinen An-stoßes, damit sich das aufgestaute Gewaltpotenzial entlädt. Entweder gegen sich selbst oder gegen andere.«
»Na
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