Splitter
wieder einen paranoiden Schub erleidet. Wo haben Sie unsere Patientin denn gefunden, Herr äh … ?«
Der Weißhaarige zog enttäuscht die Hand wieder zurück, die Marc immer noch nicht geschüttelt hatte. »Lucas«, stotterte er reflexartig. »Marc Lucas.« Er griff sich an den Nacken. Ein weiterer Automatismus, auch wenn der Verband jetzt fehlte.
»Ach ja, jetzt erinnere ich mich. Waren Sie nicht mal bei mir in Behandlung?« ‘ »Sie kennen mich?« Marc betonte jede Silbe mit der gleichen Intensität.
»Ja, natürlich. Wann war Ihr Unfall? Vor sechs Wochen?« Alles um Marc herum begann sich zu drehen. »Wer sind Sie?«, fragte er den Mann, den er noch nie zuvor in seinem Leben gesehen hatte. Weder sein Jacketkronenlächeln noch seine hohe Stirn noch sein sternförmiges Muttermal am Halsansatz direkt unter dem Kinn weckten auch nur die leiseste Erinnerung.
»Oh, verzeihen Sie«, sagte der Mann. »Ich dachte, Sie wüssten, wo Sie sich befinden.« Das Lächeln war aus seinem Gesicht verschwunden. »Mein Name ist Professor Patrick Bleibtreu.«
59. Kapitel
Niemand hinderte ihn. Keine massige Gestalt stellte sich ihm in den Weg, keine Hand zerrte an ihm, kein Arm nahm ihn in den Schwitzkasten und presste ihn mit dem Gesicht nach unten. Dabei hätten sie leichtes Spiel mit ihm gehabt. Er war so schwach, zu keinem Widerstand mehr fähig. Marcs Gedanken überschlugen sich.
Wenn das wirklich der Klinikleiter war, wem war er dann gestern Nachmittag begegnet? Wer hatte ihn vor dem Freibad Neukölln abgefangen und stundenlangen Untersuchungen unterzogen?
Die Drehtür spuckte ihn in die Außenwelt zurück, doch Marc fühlte sich, als wäre seine Seele im Atrium der BleibtreuKlinik geblieben und wartete neben dem weißhaarigen Mann darauf, dass er wieder zurückkam. Er wandte sich um und sah nach oben. Genau hier war er gestern gewesen. Aber er stand nicht in der Französischen Straße, sondern in einer Parallelstraße einen Block weiter.
Sie wollen mich fertigmachen. Irgendwer will, dass ich mein Gedächtnis verliere, und dazu bedient er sich der billigsten Tricks.
Der Maybach war gestern in die Französische Straße gefahren und dort in ein Parkhaus gebogen, das vermutlich unterirdisch mit dem Geschäftshaus auf dieser Straßenseite hier verbunden war.
Marc lachte hysterisch auf. Er hatte die echte BleibtreuKlinik nie von außen gesehen, und die Plane vor den Fenstern hatte die Scharade verhüllt. Nur die Fenster der Toiletten waren ohne Sichtbarrieren gewesen, doch die hatten ihm nur einen Ausschnitt der Kreuzung gezeigt, bei dem er keinen Verdacht schöpfte.
Und jetzt? Was mache ich jetzt?
Marc stolperte ziellos den Bürgersteig entlang. Er kämpfte gegen einen unsichtbaren Gegner, konnte nicht zwischen Gut und Böse unterscheiden und kannte noch nicht einmal den Grund für all das, was passierte.
Vielleicht steckte doch Sandra hinter allem? Vielleicht hatte ihr irgendein PR-Berater zu dieser Verschwörung geraten, damit der Film noch erfolgreicher würde, wenn herauskam, dass er auf einer wahren Vorlage basierte.
Nur dass es erst das Drehbuch und dann die Wirklichkeit gegeben hat!
Von all den Geräuschen, die ihn auf der Französischen Straße umströmten, war es wieder eine Autohupe, die seine Gedanken zerriss. Schon in der Lobby der Klinik hatte er sie gehört, doch diesmal war sie viel näher. Er sah zur Seite und erkannte seinen Bruder hinter dem Steuer.
»Steig ein!« Benny kam neben ihm zum Stehen und rief durch das geöffnete Seitenfenster eines schmutzigen Kleinwagens: »Na los. Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren!«
60. Kapitel
Das Auto schien einer jungen Frau zu gehören oder einer Familie mit einem kleinen Kind. Zahlreiche Stoffelefanten pressten ihre Saugnapffüße gegen die hinteren Scheiben, und in dem Kassettenfach des Autoradios steckte ein Benjamin-Blümchen-Hörspiel. »Ich hab ihn mir nur ausgeborgt«, erklärte Benny, ohne dass Marc ihn danach gefragt hätte. Seit einer Viertelstunde hatte keiner von ihnen etwas gesagt, doch nun wurde sein Bruder mit jeder Sekunde redseliger. »Ich bring die Kiste nachher wieder ins Parkhaus zurück, ehrlich. Aber als die Bullen gekommen sind, konnte ich nicht abwarten. Also bin ich abgehauen und hab die Schüssel hier für uns klargemacht.«
Marc nickte nur stumm, unfähig, sich zu konzentrieren, denn Benny war nicht die einzige Stimme im Auto. Eine andere sang gerade auf Englisch etwas von einem Ort, zu dem man gemeinsam gehen solle und der nur
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