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Splitter

Splitter

Titel: Splitter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Fitzek
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Blondine mit schneeweißen Knöcheln umklammerte. »Ich habe Sie verwechselt, es tut mir leid.«
    Dann blieb er zurück.
    Sie wich erst rückwärts von ihm ab, und erst nachdem sie einen sicheren Abstand zwischen sich und den Fremden gebracht hatte, drehte sie sich um. Marc starrte ihr nach, wiederholte seine Entschuldigung, als sie ein letztes Mal über die Schulter sah und ihm einen Blick schenkte, den sie sonst für Streuner und Obdachlose reserviert hatte. Sie ließ die Babyboutique unbeachtet hinter sich zurück und verschmolz mit einer Gruppe japanischer Touristen, die gerade an der Kreuzung zur Friedrichstraße aus einem Reisebus stiegen.
    »So leid«, flüsterte Marc in die Richtung, in der die Fremde wie ein Name verschwunden war, an den man sich nicht mehr erinnern kann.
    So leid.
    Er starrte nach unten, bemerkte, dass er in einer Pfütze aus Schmelzwasser stand, sah auf seine nassen, zitternden Finger, die er nicht mehr unter Kontrolle bekam. Marc fühlte sich unterzuckert, hatte dennoch keinen Hunger. Er war sterbensmüde und gleichzeitig aufgeputscht, wie nach dem Konsum einer Kanne Kaffee auf nüchternen Magen. Und er wollte weinen. Um seine Frau, sein Leben, um sich selbst, doch das Ventil öffnete sich nicht.
    Ich verliere den Verstand, formulierte er den Gedanken zum ersten Mal als Feststellung und nicht als Frage. Dann schloss er die Augen, vergrub das Gesicht in den Händen, und es war ihm vollkommen gleichgültig, was die Passanten denken mussten, denen er jetzt im Weg stand. Womöglich gab es sie ja gar nicht? Womöglich stand er nicht mit geschlossenen Augen auf einem Bürgersteig, und er hörte auch nicht die Kakophonie der Großstadt. Vielleicht liege ich in dem Bett einer Klinik? Neben mir steht kein Parkscheinautomat, sondern ein Tropf; ich trage keine Jeans, sondern einen Katheter, und das Rauschen des fließenden Verkehrs sind die Geräusche meiner Beatmungsmaschine?
    Marc hatte Angst, die Augen zu öffnen. Er befürchtete das Schlimmste, nämlich der Wahrheit ins Gesicht zu sehen, die sein Leben als Lüge entlarven würde. Als er sich schließlich doch dazu überwand, legte er den Kopf in den Nacken wie ein kleines Kind, das versucht, eine Schneeflocke mit der Zunge zu fangen. Dadurch war der erste Schock nicht so groß, denn das Wolkenspiel des betongrauen Himmels über ihm lenkte zunächst noch vom Baugerüst ab. Doch dann flackerte die Plane, die der Wind nach innen gegen das Bürogebäude drückte.
    Das ist unmöglich.
    Die Detonation der Erkenntnis löste ein inneres Beben aus. Marc taumelte, obwohl er sich nicht bewegte.
    Langsam, als trüge er doch einen Splitter im Hals, drehte er sich einmal um die eigene Achse. Er scannte seine Umgebung wie eine 3-D-Kamera und speicherte dabei Informationen, die seine Verwirrung ins Unermessliche steigen ließen. Er sah das Babygeschäft, die Autovermietung, die medizinische Fachbuchhandlung, die Einfahrt zur Tiefgarage, neben der das aufblasbare Maskottchen des Handyladens im Wind schwankte. Er erinnerte sich an all diese Einzelheiten, die er gestern schon einmal aus einer anderen Perspektive betrachtet hatte.
    Beim Pinkeln. Im sechsten Stock.
    Und dann, als der Kreis vollendet und er wieder an seiner Ausgangsposition angekommen war, als Emma ihm vorsichtig die Hand von hinten auf die Schulter legte, fand er den letzten Beweis. Er entdeckte das polierte Messingschild mit dem dezenten Hinweis auf die psychiatrische Einrichtung, die sich im Inneren des Gebäudes befand:
    Bleibtreu - Klinik Sie war wieder da.
    Und er stand direkt vor ihrem hochherrschaftlichen Eingang.
58. Kapitel
    Sie bemerkte es im gleichen Moment, reagierte aber schneller als er. Marc spürte, wie die Hand, die eben noch auf seiner Schulter gelegen hatte, achtlos von ihm abfiel. Als Nächstes sah er Emmas Rücken. Sie lief auf die Drehtür am Eingang der Klinik zu. Dabei setzte sie vorsichtig einen Fuß vor den anderen, als folge sie einem hypnotischen Befehl.
    »Emma, nicht!«, wollte Marc noch rufen, doch es war zu spät. Neben der Drehtür hatten zwei Männer die gläserne Seitentür geöffnet und traten mit einer Packung Zigaretten und Feuerzeugen in der Hand in die Kälte hinaus. Emma drängte sich an ihnen vorbei und schlüpfte durch den Spalt, bevor die Tür wieder zufallen konnte.
    Marc blieb keine Wahl. Er folgte ihr.
    Die Eingangshalle des Komplexes wirkte auf den ersten Blick wie der Check-in-Bereich eines Flughafens. Ein roter Teppich führte zu einem

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