Splitter
liegt dicht an der Halswirbelsäule. Die Pillen, die ich nehme, sollen dafür sorgen, dass der Fremdkörper besser mit dem Muskelgewebe verwächst und sich nicht entzündet oder abgestoßen wird. Wenn das nicht gelingt, müssen sie ihn doch herausschneiden, dann allerdings besteht das Risiko, dass ich vom Hals an abwärts gelähmt bin, wenn ich aus der Narkose erwache.«
»Tut es weh?«
»Nein, es juckt bloß.«
Die wahren Schmerzen saßen tiefer. Im Gegensatz zu dem lächerlichen Splitter hatten sie sich mit einer Axt in seine Seele geschlagen.
»Gut … », wollte Bleibtreu wieder ansetzen, aber Marc unterbrach ihn.
»Nein, nichts ist gut. Jetzt ist Schluss. Die Tabletten machen mich hundemüde, und oft wird mir auch übel. Ich muss mich also bald hinlegen, wenn ich Ihnen hier nicht auf das Parkett reihern soll. Außerdem habe ich die Schnauze gestrichen voll. Seitdem ich zu Ihnen ins Auto gestiegen bin, werde ich ständig vertröstet. Und anstatt dass ich mal Antworten erhalte, unterziehen Sie und Ihre Kollegin mich einem regelrechten Verhör. Also, Sie haben jetzt zwei Möglichkeiten. Entweder ich marschiere jetzt auf der Stelle durch diese Tür … »
»… oder ich verrate Ihnen endlich unser kleines Geheimnis«, beendete Bleibtreu den Satz. Sein FünfSterneWerbeprospektgrinsen flammte wieder auf. »Also schön, kommen Sie mit.«
Der Professor presste sich etwas unbeholfen aus seinem Sessel nach oben, ohne dass sein Lächeln schwächer wurde. »Folgen Sie mir. Sie sind vielleicht nur noch wenige Schritte von einem neuen Leben entfernt.«
10. Kapitel
Das menschliche Gehirn ist kein Archiv«, erklärte Bleibtreu, während er die lederbezogene Tür zu seinem Büro hinter sich schloss. »Es gibt keine Schubladen, die man nach Belieben auf-und zuziehen kann, um Informationen abzulegen oder wieder herauszunehmen.«
Der Professor nahm hinter einem wuchtigen Schreibtisch Platz, wozu er erst einmal einen Stapel loser Blätter von dem Sessel nehmen musste, die er zu den weiteren Aktenund Bücherbergen zu seinen Füßen stellte. Marc setzte sich auf einen weißlackierten Holzstuhl und sah sich um.
Im Gegensatz zu der antiseptischen Ordnung, die in den anderen Räumen der Klinik herrschte, wirkte dieses Zimmer fast verwahrlost. Benutzte Kaffeetassen und ein angebissenes Sandwich gesellten sich auf dem Schreibtisch zu wild übereinandergestapelten Fachbüchern und Pati enten blättern. Im grellen Halogenlicht der Deckenstrahler erkannte Marc einen Fettfleck auf der Krawatte des Professors, der ihm im gedämpften Halbdunkel der Limousine und des Untersuchungs zimmers bislang nicht aufgefallen war. »Früher dachte man, es gäbe für jede Erinnerung einen ganz bestimmten Platz im Gehirn. Aber dem ist natürlich nicht so.«
Bleibtreu rollte mit seinem Sessel über das Parkett, wobei er geschickt an den Aktenbergen auf dem Boden vorbeimanövrierte. Dann öffnete er einen laminierten Büroschrank und kam mit dem Modell eines Gehirns zurück, das er mit Mühe zwischen das Telefon und einen hantelgroßen Briefbeschwerer zwängte, direkt auf einer aufgeschlagenen Fachzeitschrift für Neuropsychologie.
»Ich will es Ihnen demonstrieren.«
Das aus einem künstlichen grauen Schwamm geformte Modell war etwa so groß wie ein Kinderfußball und steckte auf einem Holzstab in einem polierten Standfuß.
Als Marc seine Aufmerksamkeit wieder Bleibtreu zuwandte, hielt der zwei gläserne Ampullen in bei den Händen. Die linke war mit roter, die rechte mit einer durchsichtigen Flüssigkeit gefüllt.
»Beginnt jetzt die Zaubervorstellung?«
»So ähnlich. Passen Sie gut auf.«
Der Professor brach die linke Ampulle am Hals ab und hielt sie schräg über die graue Gehirnmasse.
»Ein Gedanke ist wie ein Tropfen.« Mit diesen Worten ließ er etwa einen Milliliter der blutroten Tinte auf den Kortex des Modells perlen. Sofort bahnte sich der Tropfen seinen Weg durch das Kapillarsystem des Schwamms.
»Wenn ein Erlebnis zu einer Erinnerung wird, lagert diese sich in Abermillionen von Nervenverbindungen ab.«
»Den Synapsen.«
»Sehr richtig. Sehen Sie genau hin, Mare.« Der Professor tippte mit einem Kugelschreiber auf die verschiedenen Regionen des Gehirns, die sich nach und nach rot färbten. »J ede Erinnerung ist in unzähligen Querverbindungen gespeichert. Ein Motorengeräusch, Menschen, die sich streiten, ein Geruch, ein bestimmtes Lied, das vielleicht im Radio lief, der Blick auf das Wasser, das Rauschen der Blätter im Wald,
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