Splitter
tippte auf einen afrikanischen Ursprung ihres Wickelkleids, der zu den drei Rastazöpfchen passen würde, die ihr vom Nacken nach unten baumelten.
»0 ja, ich weiß, wovon Sie reden, Mann.«
Ja, sicher weißt du das.
Der Wagen bremste abrupt ab, weil ein Pärchen unbedingt den Bus auf der gegenüberliegenden Seite erreichen wollte und ihnen vors Auto gesprungen war. »Gestern erst hatte ich einen Opa hier sitzen. Niedlicher alter Kerl. Ende siebzig, schätze ich. Während der Fahrt hat er plötzlich vergessen, wo er hin will.«
Okay, vielleicht hast du doch so eine ungefähre Vorstellung.
»Schlimmer noch. Er wusste nicht einmal mehr, dass er im Taxi saß. Er dachte, ich entführ ihn oder so was.«
»Was haben Sie getan?«, fragte Marc und sah wieder aus dem Fenster. Die Leuchtreklame einer Autovermietung flog an ihm vorbei.
»Kindchen, wenn ich eines im Leben gelernt habe, dann das: Wenn andere verrückt werden, musst du normal bleiben.«
Sie hupte zweimal, um einen Kollegen zu grüßen, der vor ihr in die Friedrichstraße einbog.
»Ich hab einfach nicht auf Opas Gebrüll geachtet und ihn genau dort hingefahren, wo er ursprünglich hinwollte.
Ganz normal also. Zum Glück wartete dort seine Tochter auf ihn.«
Sie hielt in zweiter Reihe und sah in den Rückspiegel. »Alzheimer. Man lernt jeden Tag neue Menschen kennen, was?«
Sie lachte so laut, als hätte sie den abgestandenen Scherz gerade erst erfunden. Dann sah sie misstrauisch zum Seitenfenster raus. »Sagten Sie Französische 211 ?«
Das Auto ruckte, als sie sich nach hinten umdrehte. »Ja, wieso?«
»Dann hoffe ich, Sie haben einen Helm dabei.« Sie kicherte und griff zum Quittungsblock. Marc winkte ab und gab ihr das letzte Geld aus seiner Brieftasche. Dann stieg er aus, um sich zu vergewissern, dass er keiner optischen Täuschung unterlag. Denn was er vom Taxi aus gesehen hatte, war so unglaublich, dass er es aus nächster Nähe begutachten musste.
Das Loch.
Je näher er dem Zaun kam, desto langsamer wurden seine Schritte. Schließlich waren sie so zögerlich, als ginge er auf eine ungesicherte Steilküste zu. Und in einem übertragenen Sinne tat er das auch.
Der Wind blies ihm ins Gesicht, und der Regen trübte seine Sicht. Jedoch nicht so stark, um nicht die Hausnummern der Geschäftshäuser lesen zu können, die sich zu seiner Rechten und Linken erstreckten. Marc schauderte. Das ist unmöglich.
Links 209. Rechts 213.
Er trat noch einen weiteren Schritt näher und konnte nun fast mit seiner Nasenspitze das Verbotsschild berühren, das vor dem Betreten der Baustelle warnte. Dann sah er wieder nach links, zu dem Sitz der Wirt-schaftskanzlei mit der Hausnummer 209. Dann nach rechts, zum Gebäude der Privatbank. Schließlich starrte er nach unten. In die sieben Meter tiefe Baugrube, an deren Stelle sich heute Mittag noch die Hausnummer 211 befunden hatte - die BleibtreuKlinik, die nun ebenso verschwunden war wie der letzte Rest an Normalität in seinem in tausend Teile zersplitterten Leben.
20. Kapitel
Bevor Marcs Vater im Alter von siebenundfünfzig Jahren an Leberversagen starb, war er Unternehmensberater, Künstlermanager, Besitzer mehrerer Hotel-und Kasinokomplexe in Südafrika, Vater zweier unehelicher Kinder, Alkoholiker, Komponist, Comiczeichner, Bodybuilder und sogar ein Starautor gewesen, der seine weltweiten Erfolge unter Pseudonym feierte. Alles nebenberuflich zu seiner Tätigkeit als Winkeladvokat. Und alles nur in seiner Phantasie.
Natürlich hatte Frank Lucas niemandem in der Familie von den Erlebnissen in seiner Scheinwelt erzählt. Ebenso wenig wie er Marc, Benny oder seine Ehefrau davon unterrichtet hatte, dass die kleine Kanzlei, zu der er jeden Morgen mit einer leeren Aktentasche aufbrach, schon längst in den roten Zahlen stand, nachdem sich seine Aussetzer wiederholt in seinen Schriftsätzen wiedergefunden hatten. Doch immerhin war es ihm gelungen, sich trotz seiner schizoiden Störungen noch zweieinhalb Jahre mit einigen leichtgläubigen Klienten über Wasser zu halten.
Selbst Anita, die Kanzleisekretärin, kam bis kurz vor seinem Ende halbtags und arbeitete nahezu kostenfrei, bis auch sie begriff, dass sie niemals an dem anstehenden Bauprojekt in Brasilien finanziell beteiligt werden würde, weil auch das nur in der Phantasie ihres überschuldeten Arbeitgebers existierte.
Das alles, Frank Lucas’ schizoide Störung und die desaströse finanzielle Lage der Familie, waren erst ans Licht gekommen, als eines Tages die
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