Splitter
bitte?
Erst als sie den Satz noch einmal wiederholt hatte, drehte er sich vollends zu ihr. Sie nahm ihre Brille ab, um die beschlagenen Gläser etwas hilflos mit bloßen Händen zu putzen.
»Das Programm!«, wiederholte sie und sah ihn zum ersten Mal direkt an. Ihre kleinen, dunklen Augen verliehen ihrem Gesicht etwas Puppenhaftes. Sie mochte jünger sein als er, auch wenn sie älter wirkte. Marc wusste nur zu gut, wie sich das Leben auf der Straße auswirken konnte. Misstrauisch sah er sich um. Der Bürgersteig war menschenleer. Die Geschäfte und Büros waren seit Stunden geschlossen.
»Wovon reden Sie?«
»Der Versuch. Das Experiment.«
Sein Frühwarnsystem mochte seit dem Unfall beschädigt und in den letzten Stunden mehrfach ausgefallen sein, dennoch reichte die letzte Reserve immer noch aus, um ihn jetzt in Alarmbereitschaft zu versetzen. Es war schon befremdlich genug, von einer Obdachlosen auf der Straße angesprochen zu werden, während man im nächtlichen Regen in eine leere Baugrube starrte. Aber das, worüber sie reden wollte, ließ die Situation geradezu unwirklich erscheinen. »Wer sind Sie ?«, fragte er.
»Emma.« Ihr Arm schnellte ihm entgegen wie der eines Kindes, das von seinen Eltern aufgefordert wurde, sich bei den Gästen artig vorzustellen. »Mein Name ist Emma Ludwig, und … »
Ihr gutmütiger Blick erinnerte ihn an seine Mutter, die ihm auch dann noch einen liebevollen und etwas wehmütigen Blick geschenkt hatte, wenn sie am Ende eines langen Tages erschöpft in der Küche stand. Marc wollte Emmas Hand gerade schütteln, als die folgenden Worte ihn reflexartig zurückzucken ließen. « … und ich warte bereits seit Tagen auf Sie.«
Ein Auto in ihrem Rücken fuhr mit überhöhter Geschwindigkeit durch eine Pfütze.
»Auf mich?«
Er schluckte. Ein dicker Tropfen fiel ihm auf die nackte Kopfhaut, und er strich ihn weg, bevor er ihm kalt in den Nacken laufen konnte. Marc konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann er sich das letzte Mal rasiert hatte, und das Gefühl der Stoppeln unter den Fingerspitzen ließ ihn noch trauriger werden. Sandra hatte es geliebt, wenn er seine »Frisur« passend zum Dreitagebart trug.
»Sie müssen mich verwechseln«, sagte er endlich und ließ den Maschendrahtzaun los. In der kurzen Zeit, in der er hier gestanden hatte, war seine Jeans schon völlig durchnässt. »Nein, warten Sie. Weshalb sind Sie hier hergekommen? Hier zu dieser Grube?«
Er wich einen Schritt zurück. Mit jedem Wort dieser merkwürdigen Frau wuchs das Gefühl einer unsichtbaren Bedrohung. »Was geht Sie das an?«
»Ich glaube, ich kann Ihnen helfen.«
Marc winkte ab. »Wie kommen Sie darauf, dass man mir helfen müsste?«
Ihre Antwort ließ ihm den Atem stocken. »Weil ich auch eine Patientin bin.«
Auch? Wieso auch?
»Ich war in dem BleibtreuProgramm, genau wie Sie.« Nein. Ich habe noch nicht einmal das Anmeldeformular unterschrieben.
»Doch dann bin ich ausgestiegen. Und seitdem komme ich in jeder freien Minute hierher.« Sie zeigte auf die Baustelle und setzte sich die Brille wieder auf. »Zu dieser Lücke hier. Und ich halte Ausschau nach Menschen, die nicht fassen können, wo die Hausnummer 211 geblieben ist.«
Marc drehte sich um, wollte nichts wie weg, selbst wenn er keine Ahnung hatte, wohin er mitten in der Nacht ohne Auto, ohne Medikamente und ohne Geld flüchten sollte. »Menschen wie Sie.«
Er wollte zu Constantin oder zu seinem Studienfreund Thomas, vielleicht sogar zu Roswitha, mit der er sich noch nie privat verabredet hatte, aber die zumindest ein vertrautes Gesicht war. Doch schließlich ging er nirgendwo hin. Er blieb stehen. Nicht weil die Frau, die sich Emma Ludwig nannte, ihm Hilfe anbot. Nicht weil sie ihm eine Akte zeigen wollte, die ihn angeblich interessieren würde.
»Dr. Lucas, bitte kommen Sie mit. Es ist zu gefährlich, wenn man uns hier zusammen sieht.«
Sondern weil die Frau, wenn sie denn wirklich existierte, seinen Namen kannte, hier ebenso wie er eine Klinik vermutet hatte und damit eine winzige Chance bestand, dass er womöglich doch nicht den Verstand verloren hatte zumindest war er dann nicht der Einzige.
21. Kapitel
Es war paradox. Vor ihm stand eine Unbekannte, die sich wie eine paranoide Verschwörungstheoretikerin anhörte: Sie wähnte sich von unsichtbaren Beobachtern verfolgt, deretwegen sie sofort verschwinden müssten. Und dennoch musste er sich mit dieser Person unterhalten, denn sie war seit langer Zeit die Erste, die ihn
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