Splitter
Polizei klingelte, um Marcs Schwester noch einmal wegen der Vergewaltigung zu befragen. Die Beamten waren mit der Reaktion der Familie überfordert. Denn es gab weder einen Vergewaltiger noch eine Schwester. Frank hatte seine Lügen zum ersten Mal im Leben dem Falschen erzählt.
Natürlich hatten sie alle etwas geahnt. Weder den Kindern noch der Mutter waren seine Stimmungsschwankungen, seine Schlaflosigkeit, die fortwährenden Schweißausbrüche und sein Hang zur Dramatisierung entgangen. Doch liebten sie ihren Vater und Ehemann nicht zu einem Teil auch deshalb, weil er es mit der Wahrheit nicht so genau nahm? Wegen seiner phantasievollen, romantischen, unglaublichen Geschichten, mit denen er das Herz seiner Frau erobert hatte und denen Marc und Benny als kleine Jungen mit offenem Mund auf dem Hochbett gelauscht hatten? Und musste ein guter Anwalt nicht hin und wieder lügen, um seine Klienten herauszuboxen ?
Aus Furcht vor der Wahrheit scheute sich die ganze Familie davor, die Darstellung seiner Wochenerlebnisse beim Sonntagsessen zu hinterfragen. Und seine Frau brachte immer öfter heimlich die leeren Flaschen zum Altglascontainer, damit weder die Kinder noch die Nachbarn etwas mitbekamen. Dennoch wollte sie nie glauben, ihr Mann könne ein Alkoholproblem haben, und mittlerweile war Marc sich dessen auch nicht mehr so sicher.
Später hatten ihm die Ärzte zwar erklärt, der in Schüben aufgetretene übermäßige Alkoholkonsum sei die Ursache seiner Wahnvorstellungen gewesen. Doch Marc hielt es umgekehrt für wahrscheinlicher. Sein Vater hatte sich nie in eine Scheinwelt gesoffen. Er hatte die ganze Zeit in ihr gelebt und nur in den lichten Momenten zur Flasche gegriffen, in denen die Qualen der Selbsterkenntnis unerträglich geworden waren. Marc hatte sich oft gefragt, was es wohl Schrecklicheres geben könnte als den Moment, in dem der Vorhang der Illusion zur Seite gezogen wird und einen Blick auf die dahinterliegende grausame Wirklichkeit freigibt. Der Moment, in dem man sich nichts mehr wünscht als eine schnelle Rückkehr in die gewohnte Welt. Selbst wenn diese gar nicht existiert. Hast du das hier auch durchgemacht, Papa?
Marc atmete tief durch und hielt sich wie ein erschöpfter Langstreckenläufer am Maschendrahtzaun der Baustellenabsperrung fest. Selten hatte er sich seinem Vater so nahe gefühlt wie jetzt. Vielleicht hatten die Ärzte sich ja auch darin geirrt, als sie behaupteten, die Störung seines Vaters wäre nicht vererblich. Möglicherweise war er nicht der Mensch, der er zu sein glaubte? Vielleicht war er, Marc Lucas, nie verheiratet, niemals ein werdender Vater und auch niemals in dieser BleibtreuKlinik gewesen? Und die Stimme, die er gerade hinter sich hörte, existierte nur in seinem Kopf …
»Entschuldigen Sie bitte?«
Die Frau klang unsicher, ähnlich wie ein Bettler, der schon zu oft zurückgewiesen worden ist, um noch ernsthaft mit einer kleinen Spende zu rechnen. Er wandte den Kopf und erkannte auf den ersten Blick, dass mit der übergewichtigen Person etwas nicht stimmte. Die Frau leckte sich mit der Zunge über die Oberlippe und zog nervös an ihren zerkratzten Fingern.
»Was ?«, fragte er kurz angebunden. Er war jetzt unmöglich in der Verfassung, einer Obdachlosen behilflich zu sein. Sie wich einen Schritt zurück und hielt sich nun ebenfalls an dem Maschendrahtzaun fest. In dem Zwielicht hier draußen war der Grad ihrer Verwahrlosung nur schwer zu erkennen. Die schwarzen, schulterlangen Haare konnten fettig oder nur feucht sein. Gleiches galt für den weißen Daunensteppmantel, in dem sie ihrer Leibesfülle wegen einem Werbemaskottchen für Autoreifen ähnelte.
»Darf ich Ihnen eine Frage stellen?«, fragte sie leise, als fürchte sie sich vor der Antwort. Sie trat in den Lichtkegel einer Baustellenlampe, die alle zwei Meter am Zaun aufgehängt waren, um vor der Baugrube zu warnen. Nun ließen ihr aufgedunsenes Gesicht und die wunden Hände keinen Zweifel mehr an ihrer seelischen Verfassung. Die Frau mit dem Doppelkinn und der sandfarbenen Kassenbrille stand unter starken Medikamenten - oder litt im Gegenteil an deren Absetzen.
»Besser nicht.« Marc sah demonstrativ nach oben, als interessiere er sich für den Schwenkkran. In der leeren Führerkabine brannte noch Licht. Wenn er sich nicht ohnehin schon schwindelig gefühlt hätte, wäre er vom bloßen Hinsehen seekrank geworden.
»Sind Sie auch in dem Programm?«, fragte die schüchterne Stimme neben ihm.
Wie
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