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Splitter

Splitter

Titel: Splitter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Fitzek
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geschalteten Anruf nicht ignorieren. Sonst wäre sein Leben früher beendet, als er es geplant hatte - mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bereits morgen früh. Spätestens am Mittag, aber nur wenn er Glück hatte und Eddy ausschlafen wollte.
    Ihm war klar, was auf dem Spiel stand, schließlich hatten sie verabredet, dass er den Job bis 23.00 Uhr erledigt und bestätigt haben sollte. Und jetzt war er schon lange über der Zeit. Aber es war ihm aus zwei Gründen nicht möglich, den Arm auszustrecken und das Telefon vom Beifahrersitz zu nehmen.
    Der erste Grund, ein erdrückender Depressionsschub, lähmte ihn von innen. Der zweite hatte kinnlange, blonde Haare unter einer grünen Schirmmütze und leuchtete ihm mit einer Stabtaschenlampe ins Gesicht. »Verkehrskontrolle, Ihre Papiere bitte.«
    Er nickte und wollte sich zum Handschuhfach beugen, doch sein Gehirn weigerte sich, die notwendigen Impulse an seine Muskeln zu schicken.
    Viele seiner kriminellen Bekannten, die er über Valka kennengelernt hatte, verlachten Depressionen als Weiberkrankheiten. Wohlstandswehwehchen, die nur Schwule und Frauen bekamen. Er beneidete sie darum, dass sie die Wahrheit nicht kannten. Eine echte Depression war wie ein Schwamm, den man unter der Brust trägt, der sich mit ruß geschwärzten Gedanken vollsaugt und immer schwerer wird, bis man sein Gewicht körperlich spürt. Zuerst beim Atmen und Schlucken, später lähmt er jede Bewegung, bis es einem sogar unmöglich wird, die Bettdecke vom Kopf zurückzuziehen.
    »Etwas schneller, bitte, wenn es Ihnen möglich wäre.« Die junge Polizistin sah hilfesuchend zu ihrem Kollegen, der fünf Meter vor ihnen gerade einen anderen Wagen kontrollierte.
    Er wusste, weshalb sie ausgerechnet ihn aus dem Strom der Brunnenstraße aussortiert hatten. Er war viel zu schnell gefahren, da ihn das Radio-Orakel abgelenkt hatte.
    Werde ich durchhalten?
    Er konnte sich nicht erklären, weshalb er ausgerechnet heute wieder mit diesem albernen Spiel seines Bruders hatte anfangen müssen, das ihnen stets nur Ärger eingebrockt hatte.
    Die Regeln des Orakels waren ebenso einfach wie unverrückbar. Man stellt eine offene Frage, wie zum Beispiel: »Werde ich mal reich und berühmt werden?« oder »Was muss ich tun, damit Nicoletta aus der 10 A mich endlich ranlässt?« Oder, so wie heute: »Werde ich durchhalten?« Dann wird das Autoradio angeschaltet. Der Text des ersten Songs liefert die Antwort. Zuletzt, vor vielen Jahren, hatten sie das Radio-Orakel entscheiden lassen, ob sie tatsächlich das Auto ihres Vaters in dem See der stillgelegten Kiesgrube versenken sollten.
    Sie waren sechzehn gewesen und hätten natürlich niemals mit Daddys Kombi fahren dürfen. Aber bisher war bei ihren Spritztouren durch das nächtliche Berlin ja immer alles gut gegangen: kein Unfall, keine Polizeikontrollen, keine Flecke auf den Sitzen. Alles lief glatt. Sie schafften drei Partys an einem Abend, und die Mädchen ließen sich von ihren »Helden« auf den Rücksitzen befummeln, denn sie waren einfach die Coolsten der Clique: die einzigen Teenager mit einem eigenen Auto.
    Bis sie eines Tages, gegen vier Uhr morgens, nach Hause kamen und ihr Parkplatz vor der Falafelbude besetzt war. Ein Parkplatz, der laut KiezGewohnheitsrecht für den »Anwalt« reserviert war. Doch irgend ein ahnungsloser Wessi-Depp mit Hamburger Kennzeichen hatte seine Dreckschleuder genau dort abgestellt, wo Vater Lucas in drei Stunden zuerst nach seinem Wagen suchen würde.
    Marc hatte deshalb vorgeschlagen, den Mercedes im See verschwinden zu lassen, bevor alles aufflog und sie womöglich noch ins Internat mussten. Also waren sie noch eine Runde gefahren und hatten das Autoradio eingeschaltet - genau in der Sekunde, als »I am sailing« lief, was nur eine mögliche Interpretation zugelassen hatte. Zumal sie wussten, dass der Song von Rod Stewart gesungen wurde, denn das war eine der unumstößlichen Regeln: Das Orakel galt nur, wenn man den Interpreten erkannte.
    Und so hatten sie schließlich den Wagen versenkt. »Hier, bitte sehr.«
    Irgendwie war es ihm gelungen, ihr die Papiere aus dem Fenster zu reichen. Um ein Haar hätte er ihr sogar die zerknitterte Namensliste gegeben, die ebenfalls im Handschuhfach gelegen hatte.
    Während die Polizistin misstrauisch den Fahrzeugschein beäugte, nahm er sein vibrierendes Telefon in die Hand. »Ich ruf dich gleich zurück, Eddy«, sagte er und fing sich trotzdem ein ärgerliches Stirnrunzeln der Polizistin

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