Splitter
Neutralen um Hilfe. Aber geh auf keinen Fall mit dieser Frau mit! Schon gar nicht in diese heruntergekommene Absteige in Tegel.
Aber er saß in diesem Augenblick nicht entspannt in einem bequemen Kinosessel, sondern auf der Kante einer durchgelegenen Hotelmatratze, und sein Verstand arbeitete auch nicht unter Normalbedingungen, die ihm eine rationale Entscheidung ermöglicht hätten. Marc hatte in wenigen Stunden alles verloren, woran er bislang geglaubt hatte: den Glauben an die Realität seiner Erinnerungen, an sich selbst.
Auf der Fahrt hierher hatte Emma ihm wortlos einen Zettel in die Hand gedrückt, der so aussah, als wäre er in einem Wutanfall aus einem Schnellhefter gerissen worden aus einer Bewerbungsmappe, um genau zu sein, denn bei näherem Hinsehen entpuppte er sich in dem schummrigen Licht der Innenbeleuchtung als die erste von drei Seiten eines förmlichen Lebenslaufs. Dieser schien ihrem äußeren Erscheinungsbild jedoch noch weniger zu entsprechen als seine erste Einschätzung, Emma verdiene ihr Geld durch Betteln. Angeblich war sie in Dresden geboren und schon vor der Wende mit ihren Eltern nach Frankreich geflohen, um später an der Sorbonne erst Medizin, dann Deutsch, Spanisch und Französisch zu studieren. Zuletzt war sie als Simultandolmetscherin auf Fachkongressen tätig gewesen, hauptsächlich auf Tagungen der Pharmaindustrie, wofür sie ihres abgebrochenen Medizinstudiums wegen besonders geeignet gewesen war.
»Also, was gibt es hier so Wichtiges, was Sie mir unbedingt zeigen wollen?«, versuchte Marc erneut ihr Schweigen zu brechen. Seit der Fahrt hierher hatte sich ihre Konversation auf das Notwendigste beschränkt. Sie signalisierte ihm wortlos, dass er sich noch einen Moment gedulden solle. Marc, der ihr bislang dabei zugesehen hatte, wie sie eine Reisetasche hervorgeholt und mehrere Stapel alter Zeitungen herausgezogen hatte, ließ den Blick langsam durch das Hotelzimmer wandern.
Es entsprach dem Gesicht des Mannes, der ihnen den Schlüssel an der Rezeption ausgehändigt hatte: quadratisch, ungepflegt und düster. Auch die abgestandene, überhitzte Luft roch vermutlich so wie der Nachtportier unter dem Arm. Vermutlich hatte Emma seit Tagen das »Bitte nicht stören«-Schild vor der Tür hängen. In dieser Zeit hatte sie das Zimmer in eine Mischung aus Rumpelkammer und Bücherantiquariat umgewandelt.
Die eine Hälfte des Doppelbetts war übersät mit ausgeschnittenen Zeitungsartikeln, beidseitig beschriebenen Notizzetteln und medizinischen Fachbüchern, die sich auch auf dem kleinen Schreibtisch neben dem Fernsehschrank wiederfanden. Ihre Stiefel hatte Emma ausgezogen, ebenso die weiße Kapuzenjacke, die sie achtlos auf die zerfaserte Auslegeware geworfen hatte. Sie trug nun nur noch ein schlabberiges Wollkleid, das ihr bis zu den Knöcheln reichte.
Während er überlegte, wie viel Zeit er ihr noch geben würde, bevor er endlich das Weite suchte, hockte sich Emma auf einen gefährlich knirschenden Holzstuhl, legte den linken Fuß auf den massigen rechten Oberschenkel und massierte sich den Ballen.
Marc stand auf und ging zum Fenster. »Nicht. Sie könnten uns sehen.«
»Wer?« Er ließ die Jalousie herunter. »Bleibtreus Leute.«
Sie nestelte nervös an ihrer Brille und nahm sie schließlich ab, um an einem der Bügel zu kauen. »Bleibtreu?«, fragte Marc.
»Ja.«
»Also gibt es die Klinik wirklich?«
Na toll. Du suchst nach Bestätigung bei einer Paranoiden. Er kippte das Fenster, ohne die Jalousien nach oben zu ziehen.
»Natürlich.«
Emma musste etwas lauter reden, um das Prasseln des Regens zu übertönen, dessen Tropfen wie Pistolenkugeln gegen das Fensterblech knallten. Hin und wieder spülte der Wind vereinzelte Querschläger in das Zimmer. »Selbstverständlich gibt es diese Klinik. Ich selbst war ja dort.«
Sie schob sich die Brille wie einen Haarreif über die Stirn. Dabei fuhr sie sich wieder nervös mit der Zunge über die Oberlippe. Mit einem Mal stand sie ruckartig auf, als wäre ihr plötzlich etwas eingefallen, und stapfte zum Kleiderschrank.
»Und wo, bitte schön, ist das Gebäude dann abgeblieben?«, fragte Marc.
Emma tippte einen sechsstelligen Code in einen schuhkastengroßen Safe, der in die Ecke des Schrankes geschraubt war.
»Es ist nicht verschwunden. Sie haben es nur nicht gesehen, Marc.«
»Ha!« Er lachte auf, etwas schriller als beabsichtigt. »Hören Sie, ich habe einen verdammt anstrengenden Tag hinter mir. Meine Aufnahmebereitschaft ist
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