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Splitter

Splitter

Titel: Splitter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Fitzek
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konnte, wenn nicht alle seine Sinne aktiviert waren. Als er sie wieder öffnete, stand sein Schwiegervater vor dem Fenster. Sein Zeigefinger folgte dem Verlauf eines Regentropfens, der wie eine Träne die Scheibe hinabglitt. »Wie oft denkst du noch an den Tag, damals im Mai?«
    Constantins Stimme war belegt. »Wann war es genau?« Der Tag im Mai.
    Sie hatten ihn nie anders genannt. In ihren Gesprächen war es nie der Tag gewesen, »an dem Sandra überfallen worden war«, oder »der Tag, an dem man sie geknebelt und mit einer Drahtschlinge an den Küchenherd gebunden hatte«. Es war auch nicht »der Tag, an dem Sandra ihn eigentlich auf eine Fortbildung hätte begleiten sollen und wegen ihrer Übelkeit zu Hause in der Villa ihres Vaters geblieben war«.
    »Christian wäre jetzt drei«, sagte Marc leise. »Genau. Drei Jahre ist das jetzt her.«
    Constantin seufzte, als wäre seither eine Ewigkeit vergangen. Und im übertragenen Sinne war es das auch. Sandra war damals schon einmal schwanger gewesen. Die Einbrecher kamen, als sie gerade mit einer Familienpackung Creme-brulee- Eis auf dem Schoß eine alte King 01 Queens-Folge auf DVD sehen wollte. Sechs Stunden dauerte es, bis Constantin endlich nach Hause kam. Bis dahin hatten die beiden Kerle mit den Skimasken den Tresor aufgestemmt und neben den teuren Originalen an den Wänden sämtliches Tafelsilber, Bargeld, eine Uhrensammlung und den alten Laptop mitgenommen.
    Sechs Stunden.
    Die Blutungen der Fehlgeburt hatten schon eine Dreiviertelstunde früher eingesetzt.
    »Habt ihr euch deshalb für euer zweites Baby keinen Namen mehr aussuchen wollen?«
    Marc nickte. »Ja. Der Tag hat so vieles zerstört. Wir dachten, Sandra könne nie wieder Kinder bekommen. Als es dann doch funktionierte, wollten wir das Unglück nicht heraufbeschwören. Aberglaube.« Er lachte freudlos. »Ist es nicht eine Ironie des Schicksals?«
    Constantin drehte sich um und wirkte auf einmal unendlich alt. »Du irrst dich.«
    Mare sah auf. »Wie meinst du das?«
    »Du hast gesagt, der Tag damals habe vieles zerstört. Das ist natürlich richtig. Aber so grausam es klingt, das Unglück hat euch auch drei weitere schöne Jahre geschenkt.«
    »Das verstehe ich nicht.«
    »Sandra wollte dich damals verlassen, Mare.«
    »Wie bitte?«
    Mare fröstelte und zog die Schulter zusammen wie jemand, der damit rechnet, gleich einen Eiswürfel in den Nacken gelegt zu bekommen.
    »Ich bin nicht sicher, aber ich glaube, deshalb war sie bei uns in Sakrow. Sie wollte mit mir reden, sobald ich aus der Klinik komme.« Constantin atmete schwer. »Sie rief an und sagte, es gehe um eure Beziehung und um einen anderen Mann, dem sie erst kürzlich begegnet sei.«
    »Das kann nicht sein«, sagte Mare, obwohl er allen Grund hatte, seinem Schwiegervater zu glauben. Alte, drückende Erinnerungen erkämpften sich einen Platz in der vorderen Reihe seines Bewusstseins. Er hatte es damals verdrängen wollen und Sandras Verhalten auf hormonell bedingte Stimmungsschwankungen während der Schwangerschaft geschoben. Zuerst war sie nur abwesend, still; dann zog sie sich immer mehr in sich zurück, bis die Nachdenklichkeit in eine Depression umzuschlagen schien. Er wollte alle Termine absagen, bis zur Geburt bei ihr zu Hause bleiben, doch das lehnte sie ab. Stattdessen ging sie stundenlang allein spazieren, auch in Gegenden, um die sie normalerweise einen großen Bogen machte. Eines Tages, er hatte gerade die Eltern eines notorischen Schulschwänzers in Neukölln besucht, sah er, wie sie aus einem schäbigen Straßencafe kam und gedankenverloren in ein Taxi stieg. Als er sie am Abend darauf ansprach, wurde sie wütend und warf ihm an den Kopf, sie verweigere die Aussage, »Herr Anwalt«. »Wer war der andere ?«, stellte er die Frage, die ihn damals schon gequält hatte.
    Constantin zuckte mit den Achseln. »Ich habe wirklich keine Ahnung. Es kam nie zu einem klärenden Gespräch. Denn als sie nach der Not-OP erwachte, wollte sie kein Wort mehr darüber verlieren. Sie wollte nur noch dich sehen.« Marc spürte einen leichten Krampf in der Wade und stand mühsam auf. Seltsamerweise erinnerte er sich ausgerechnet jetzt an den müden Witz seines Alten Herrn, der ihm erklärt hatte, man erkenne Männer ab fünfzig daran, dass sie sowohl beim Hinsetzen als auch beim Aufstehen stöhnten. So gesehen war er heute an einem einzigen Tag um achtzehn Jahre gealtert.
    »Warum erzählst du mir das gerade jetzt?«, fragte Marc und griff sich den leeren

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