Splitterfasernackt
dass Caitlin eines Tages vor meiner Tür steht und sagt: »Hey, Lilly, war nur ’n Witz, ich bin gar nicht tot! Komm, lass uns runter zum See gehen.«
Gott, ich würde ihre Hand nehmen und mich mitziehen lassen.
Ich würde ihr überallhin folgen.
An einsamen Tagen rolle ich mich unter einem Laken zusammen und kuschele mich an den großen zotteligen Bären, den irgendein namenloses Mädchen einmal im Passion gelassen hat. Mit dem Bären im Arm presse ich meine Augenlider so fest zusammen, wie ich nur kann. Ich weiß, es ist ein ebenso verzweifelter wie sinnloser Glaube, dass ich es auf diese Art schaffen könnte, mich selbst auszublenden.
Aber ich versuche es doch.
Immer wieder.
10
H eute ist Samstag, ich sitze mit Dasha und Valesca am Wohnzimmertisch und spiele »Zug um Zug«, als mein Handy klingelt. Es ist Lady.
»Hast du Lust, heute mit mir abendessen zu gehen?«, fragt sie und überspringt damit die Begrüßung.
Ich zögere einige Sekunden. Essen ist so anstrengend.
»Meine Fresse, Lilly!«, faucht Lady. »Das sagt man halt so. Ich versuche gerade, mir vorzustellen, dass ich mit einem geistig zurechnungsfähigen Menschen kommuniziere, könntest du mich wenigstens ein kleines bisschen dabei unterstützen? Du kannst dir von mir aus gerne einen Teller Salat bestellen, ohne Dressing, nur mit Essig und ohne Öl! Du kannst deine Tomaten zu Soße vermatschen, eine dreiviertel Gurkenscheibe, einen halben Zwiebelring und drei Maiskörner essen. Das ist mir alles scheißegal! Wenn ich mir so viele Gedanken übers Essen und Nichtessen machen würde wie du, dann bräuchte ich ein wesentlich größeres Gehirn und mehr Zeit, als ich je haben werde.«
»Okay«, sage ich, »ist ja schon gut, du brauchst nicht so zu schreien, in einer Stunde mache ich hier Schluss.«
»Gut«, sagt Lady, »dann hole ich dich in einer Stunde ab. Und das vorhin war gelogen, ich will, dass du wenigstens zwei kleine Tapas-Teller voll mit Hackfleischbällchen, frittierten Fischen oder diesen Tintenfischkringeln verputzt. Und JA , ich weiß: Du willst keinen Fisch, du willst das ganze Meer! Aber du kommst trotzdem mit. Bis gleich!«
Sie legt auf, bevor ich ihr widersprechen kann. Also baue ich noch schnell meine letzte Zugstrecke zu Ende und stelle mich anschließend vor den Spiegel im Mädchenzimmer, wo ich meinen Bauch einziehe, bis meine Rippen anfangen zu schmerzen, während ich mir nebenbei lautlos alle gebumsten Kunden dieser Woche aufzähle, an die ich mich noch erinnern kann.
Dann stürzt Brittany ins Mädchenzimmer und reißt mich aus dem jämmerlichen Versuch, meine geschundene Seele mit Kalorienentzug und Fehlficks zu heilen, indem sie mir von ihrem neusten Verlobten erzählt.
Anderthalb Stunden später sitzen Lady und ich in dem spanischen Restaurant, in dem mindestens drei von ihren Ex-Freunden arbeiten, die sich alle darum reißen, uns zu bedienen, und Lady jeden Wunsch von den Lippen ablesen. Lady ordert die Tapasplatte für zwei Personen. Ich werfe ihr einen bösen Blick zu, aber Lady ignoriert so ziemlich alles, was sie gerade nicht sehen will, und zündet sich stattdessen zwei Zigaretten an. Das macht sie meistens; eine lässt sie dann einfach so verglühen, während sie die andere Zigarette mit der Grazie einer großen Filmdiva an ihre Lippen setzt.
»So rauche ich nur halb so viel«, hat sie mir einmal erklärt. Keine Ahnung, ob ich ihr das glauben soll, aber wahrscheinlich ist es egal, denn wenn Lady an etwas glaubt, dann zählt das sowieso für zwei Personen.
»Prinzessin«, sagt Lady jetzt und schiebt mir schon mal den Brotkorb vor die Nase, »ich weiß, du hast heute mindestens fünf Minuten lang vor dem Spiegel gestanden und überlegt, ob du dünn und hübsch genug bist, um etwas essen zu dürfen. Ich kann dir jetzt zehn Mal versichern, dass du wunderschön und viel zu dünn bist. Was nützt dir das, wenn du es nicht verstehen willst. Aber eines sage ich dir: Schönheit ist das, was wir sehen, wenn wir aufhören, nach etwas zu suchen, das schöner ist. Also nimm dir gefälligst ein verdammtes Stück Brot! Du kannst ja versuchen, um die Kalorien herumzuessen oder so.«
Ich seufze. Durchschaut zu werden ist ein Kompliment und ein tödlicher Beweis zugleich.
Der Duft der Tapasplatte erinnert mich an einen verregneten Strandspaziergang mit meiner Mutter am Meer. Ich war noch ein Kind damals, und meine Mutter hat gelächelt. Ihre Gesichtszüge überschwemmen meine Erinnerungen und kommen näher und näher.
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