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Splitterfasernackt

Splitterfasernackt

Titel: Splitterfasernackt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilly Lindner
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Mein Gehirn macht mir so langsam ernsthaft zu schaffen.
    Meine Mutter fehlt mir.
    Das macht mir noch viel mehr zu schaffen.
    Denn ich frage mich, warum ich sie so sehr liebe, dass es weh tut. Warum ich süchtig nach ihr bin, sehnsüchtig, obwohl sie herausragend darin ist, mich immer wieder aufs Neue zu verletzen.
    Aber Lady schiebt den Brotkorb so nah an mich heran, dass er gegen meine Brüste stoßen würde, wenn ich noch welche hätte, und reißt mich aus meinen Gedanken. Dann pustet sie mir eine kleine Rauchwolke entgegen, die aussieht wie ein Wolf. Ein Werwolf. Ich habe Angst.
    Nicht vor dem Wolf.
    Vor dem Tapasteller. Und dem Brot.
    Doch an diesem Abend esse ich trotzdem etwas. Nicht viel, aber mehr als sonst. Für Lady, weil sie meine beste Freundin ist. Genau wie Caitlin, die nicht mehr ist.
    Und während ich an meinem Wasser nippe, während ich angestrengt kaue, dabei jeden einzelnen Bissen zähle, weil das Sicherheit gibt und Macht, da fragt Lady mich ganz gelassen, wie das eigentlich so gewesen sei, zu sterben.
    »Keine Ahnung«, sage ich. »Ich lebe ja noch.«
    »Was du nicht sagst«, meint Lady und bläst mir noch einen Werwolf ins Gesicht.
    »Ich kann dir sagen, wie es kurz vor dem Faststerben ist«, erwidere ich.
    »Na, dann schieß mal los«, sagt Lady und lehnt sich gespannt zurück.
     
    Ich denke nach und versuche mich zu erinnern. Es heißt, kurz bevor man stirbt, sieht man die wichtigsten Dinge, die man erlebt hat, noch einmal im Schnelldurchlauf; in einer einzigen Sekunde kommt so viel Zeit zurück, dass ein einziges Blinzeln ausreichen würde, um alles zu verpassen.
    Aber als ich siebzehn Jahre alt war und mein Magen fast kollabiert wäre wegen all der Tabletten, in diesem Moment sind nur Bilder von einem einzigen Augenblick meines Lebens in mir heraufgeschossen. Ich habe an das Sommercamp an der Ostsee gedacht. Ich war elf Jahre alt damals und zusammen mit Caitlin dort. Wir beide sind als Kinder jedes Jahr in den Oster- und Sommerurlauben zusammen ins Ferienlager gefahren, aber in jenem Jahr war es etwas Besonderes, denn unsere Freundschaft war noch intensiver als je zuvor. Vielleicht weil wir beide einsamer waren, als wir uns eingestehen wollten.
    Nacht für Nacht habe ich mich aus dem Camp geschlichen, unten am Meer gesessen, dem Rauschen gelauscht und überlegt, ob ich einfach losschwimmen sollte, so weit hinaus, dass ich nie wieder zurückkehren könnte. Aber stattdessen habe ich meinen Eltern jeden Tag zwei Briefe geschrieben, in denen stand, wie sehr ich sie lieben und vermissen würde und dass ich mir schrecklich wünschen würde, dass sie mich ebenfalls ein bisschen lieben und vermissen könnten. Natürlich habe ich die Briefe nicht abgeschickt und natürlich war ich wütend auf mich, weil ich so einen gefühlsduseligen Blödsinn geschrieben habe.
    Caitlin hat währenddessen jeden Tag geweint. Weil ihre Mutter ihr gleich am zweiten Tag eine Postkarte geschickt hatte, in der stand:
Caitlin, meine Liebe, es tut mir wirklich leid, Dir das per Post zukommen zu lassen – aber ich dachte, Du solltest es besser gleich wissen: Dein Vater und ich, wir lassen uns scheiden!
    »Eine Postkarte!«, hat Caitlin geschnieft. »Sie schicken mich ins Ferienlager und schreiben mir dann eine bekloppte Postkarte?! Mit einem dämlichen Hund drauf? Wer macht so etwas, Lilly? Ein Hund? Ich bin allergisch gegen Hunde. Ich hasse Hunde! Wozu gibt es Postkarten mit Hunden drauf? Hätte sie nicht wenigstens einen Brief schreiben können? Was ist nur los mit der Welt? Lilly! Ich werde nach Hause kommen, und nichts wird mehr sein, wie es einmal war.«
    Caitlin, meine beste Freundin, mein größtes Glück, mein zärtlichster Teil. Und ich habe neben ihr gesessen, sie fest im Arm gehalten und gehofft, dass ihr Schmerz sich verflüchtigt.
    Aber flüchtende Schmerzen.
    Verstecken sich meistens in einem Kopf.
    Am vorletzten Abend bekam Caitlin eine weitere Postkarte von ihrer Mutter, diesmal eine mit einem Eichhörnchen darauf.
    »Was hat sie geschrieben?«, habe ich Caitlin gefragt, die vor unserer Camphütte saß und dabei war, eine Blume in Einzelteile zu zerrupfen.
    »Ich muss bei meinem Vater wohnen«, hat Caitlin gemurmelt.
    Da habe ich mich neben Caitlin auf die Stufen sinken lassen und sie an mich gezogen. Ihre Haut war eiskalt, obwohl die Abendluft noch warm war, und ich erinnere mich, wie verloren sie mir in diesem Augenblick vorkam. Caitlins Vater war oberflächlich betrachtet eigentlich ganz nett, aber

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