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Splitterherz

Titel: Splitterherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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Das
    Rauschen war da, schwach und leise, aber es war da. Und weil ich hoffte, ihm seinen Ekel nehmen zu können, jetzt und für immer, blieb ich liegen, ganz nah bei ihm, mit Schmerzen im ganzen Kör­per und blutendem Bein, aber bei Colin, und presste meine warmen Fäuste in seine Achselhöhlen, bis seine Brust sich endlich entspann­te.
     

    Galgenfrist
     
    »Ellie!« Jemand rüttelte unsanft an meiner Schulter. Doch ich regte mich nicht. Ich wollte nicht geweckt werden. Es war so schön, hier zu liegen und zu schlummern.
    »Ellie, verdammt, jetzt wach auf, wir sind da!« Ich versuchte, die Hand an meiner Schulter wegzuschieben, aber sie griff noch fester zu. Die Fingernägel bohrten sich tief in meine Haut. Dann wurde es plötzlich so hell, dass meine Augen sich von allein öffneten. Till­mann leuchtete mir mit der Taschenlampe mitten ins Gesicht. Till­mann? Schlagartig wusste ich wieder, wo ich war.
    »Wir sind da«, sagte Tillmann noch einmal und deutete genervt nach vorne. Wie ein Unheil verkündendes Monstrum ragte die Kli­nik vor uns auf. »Und jetzt?«
    »Mist, verfluchter«, jammerte ich. Ich konnte mein Bein nicht mehr bewegen. Es hing an meinem Körper, als gehörte es nicht zu mir. Ich stützte mich auf Colins Oberkörper, in dem es immer noch leise, aber beruhigend rauschte, und zog meine Beine heulend und schimpfend nach vorne, bis ich auf der Kante des Lederpolsters zum Sitzen kam. Colin ruhte kalt und unbewegt hinter mir, immer noch zusammengekrümmt, aber seine Gesichtszüge hatten sich ge­glättet.
    »Bist du dir sicher, dass er lebt?«, fragte Tillmann skeptisch.
    »Ja«, antwortete ich schwer atmend und untersuchte flüchtig mein Bein. Es war schwarz verkrustet, doch die Wunde nässte nur

    noch. An meinem Blutverlust würde ich jedenfalls nicht sterben. Wenn, dann an einer Infektion, aber die würde mich erst in einigen Tagen dahinraffen. Eiter, hohes Fieber, Sepsis. Beerdigung.
    »Warum willst du ihn da reinbringen?«
    »Tote Seelen«, erklärte ich kurz angebunden, denn jedes Wort schmerzte. »Wirken wie ein Schutzpanzer, weil sie nicht mehr träu­men.«
    Ich wartete ein paar Sekunden, bis ich wieder sprechen konnte, ohne das Gefühl zu haben, dabei die Besinnung zu verlieren. Dann nahm ich die Spinne und gab sie Tillmann.
    »Bitte steck sie ein, vielleicht brauche ich sie noch mal.« Wider­willig gehorchte er und stopfte das Glas in die Tasche seiner Kapu­zenjacke.
    »Wir müssen ihn ganz in die Nähe der Geschlossenen bringen«, sprach ich gedämpft weiter. Colin reagierte nicht. »Dort ist er am sichersten. In irgendein leeres Zimmer.«
    Die Geschlossene. Jene Abteilung, in der die schlimmsten Fälle behandelt wurden. Menschen, die versucht hatten, sich oder andere umzubringen, die schwer drogenabhängig waren. Oder gar nicht mehr wussten, wer sie waren, und irgendwelchen eingebildeten Stimmen folgten, die ihnen die unglaublichsten Sachen befahlen. Immer wenn Papa davon erzählt hatte, waren mir eisige Schauer über den Rücken gekrochen und gleichzeitig hatte mich eine zügel­lose Neugier befallen. Genau deshalb wusste ich jetzt zu viel darü­ber, um mich nicht zu gruseln.
    »Wir brauchen also einen Schlachtplan«, mutmaßte Tillmann nachdenklich und runzelte die Brauen. »Hast du einen?«
    Ich schüttelte nur den Kopf. Ich wurde es langsam leid, Pläne zu schmieden. Ich konnte das Wort Plan nicht mehr hören. Aber so, wie wir aussahen, machten wir uns mehr als verdächtig. Ich war immer noch voller Erde, Zweige und Blüten. Colin - ja, was Colin war oder tat, wusste ich nicht genau. Aber da Mahre nicht schlafen konnten, war er sicher ansprechbar. Trotzdem durfte auch ihn niemand zu Gesicht bekommen. Seine Hose und sein Hemd waren zerrissen und noch immer klebten Blutreste an seiner weißen Haut. Tillmann wirkte einigermaßen normal, doch das konnte uns nicht retten.
    Ich schaute auf die Uhr im Wagen. Kurz vor sechs. Dann ließ ich meinen Blick über die dunkle, abweisende Front des Klinikgebäudes schweifen. Geschlossene Abteilungen befanden sich fast nie im Erd­geschoss. Meistens richtete man sie im zweiten oder dritten Stock ein. Ja, im oberen Bereich des Baus konnte ich Gitter vor den Fens­tern erkennen. Und im Stockwerk darüber, direkt unter dem Dach, wand sich ein Bauschlauch bis hinunter zum gepflasterten Hof. Et­liche der schmutzigen, blinden Scheiben hatten Sprünge und es gab keinerlei Jalousien oder Läden.
    »Okay. Jetzt habe ich eine Idee«, sagte ich gefasst.

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