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Splitterndes Glas - Kriminalroman

Splitterndes Glas - Kriminalroman

Titel: Splitterndes Glas - Kriminalroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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unbestimmte Erinnerung, schon einmal dort gewesen zu sein, in Broadstairs, ohne dass sie genau sagen konnte, wann oder warum. Als Kind hatte sie mit ihrer Familie in Derbyshire gelebt, und in den Ferien hatten sie im Lake District gecampt. Mücken und Minzekuchen und endlose Wanderungen auf den einen oder anderen Berg hinauf, immer auf der Suche nach einer Aussicht, die, wenn sie schließlich oben waren, im Nebel versank. Und bei nassem Wetter waren Besuche des Bleistiftmuseums in Kenwick angesagt.
    Aber Broadstairs? Der Südosten? Dieses Stückchen Land, das einfach in die Straße von Dover hineinragt, an der Stelle, an der sich der Ärmelkanal und die Nordsee treffen?
    Ramsgate, Margate, Broadstairs.
    Bilder von Stephen und ihr, wie sie mit ihrem Vater auf dem Sand Kricket spielten und Burgen bauten, die von der Flut verschlungen wurden. Eine Eisdiele, italienisch, auf der anderen Seite der Promenade, die man über ein paar Stufen erreichte. Ihre Mutter, die Dickens las – ›David Copperfield‹? – und mit ihnen das Haus besichtigte, wo der Schriftsteller gelebt hatte.
    Das konnte sie sich doch nicht alles ausgedacht haben? Aber wie war es zu dieser Reise gekommen?
    Sie meinte, sich zu erinnern, mit ihren Eltern Freunde der Familie besucht zu haben, die an irgendeinen Ort südlich von London gezogen waren. Hatten ihre Erinnerungen mit dem Besuch bei diesen Freunden zu tun?
    Bis vor kurzem hätte sie Stephen angerufen oder ihm eine E-Mail geschickt. Werde ich langsam verrückt, Steve, oder   … Etwas zog sich in ihrer Brust zusammen. Das würde sie jetzt nie wieder tun können.
    |216| Als ein Rastplatz vor ihr auftauchte, bog sie von der Straße ab. Volle fünfzehn Minuten saß sie da, das Gesicht schluchzend in den Händen vergraben. Tränen tropften durch ihre Finger und liefen ihr den Hals hinunter.
     
    Gordon Heddens Haus war eines von mehreren mittelgroßen frei stehenden Häusern an der Straße, die langsam aus dem Zentrum der Stadt hinauf in Richtung Ramsgate und Pegwell Bay führte. Wie die anderen war es ordentlich und unauffällig; mit seiner niedrigen angemalten Pforte, der Ligusterhecke und den Blumenkästen voller grüner Narzissen, die noch nicht blühten, war es auf gewisse Weise durch und durch englisch.
    Ein kühler Wind erhob sich vom Meer, als Lesley aus dem Wagen stieg. Trotz der Sonne fröstelte sie und knöpfte ihren Mantel zu.
    Hedden hatte nicht besonders begeistert gewirkt, als sie anrief, aber am Ende war es ihr gelungen, ihn zu überreden. Seine Stimme hatte ein wenig zittrig und unsicher geklungen, aber der Mann, der jetzt die Haustür öffnete und den Weg herunterkam, um sie zu begrüßen, war trotz seines Alters ausgesprochen rüstig. Nur mittelgroß, mit feinen Gesichtszügen und silbernem Haar, trug er eine beigefarbene Strickjacke über einem großkarierten Hemd, das wie die Hose bestimmt schon jahrelang in seinem Schrank hing. Jahrzehnte vielleicht.
    Seine Hand zitterte leicht, als er die ihre schüttelte, aber sein Griff war fest.
    »Sie haben also ohne Schwierigkeiten hergefunden?«, sagte er freundlich.
    Lesley versicherte ihm, dass die Fahrt kein Problem gewesen sei, und nach ein paar Worten über das Wetter und ein paar Momenten, in denen sie die Aussicht aufs Meer |217| bewunderten, wo ein Containerschiff sich am Horizont dahinquälte, gingen sie ins Haus.
    Das Innere des Hauses war so ordentlich und adrett wie Hedden selbst und erinnerte Lesley an das Haus ihrer Eltern in Kirkby Stephen: ein Platz für alles, wie ihre Mutter gerne sagte, und alles an seinem Platz.
    Hedden ließ sie in einen Raum eintreten, der nach Möbelpolitur roch, und bat sie, sich zu setzen. Es gab eine dreiteilige Polstergarnitur, ein Klavier an der einen Wand, einen runden Tisch am Fenster. Auf einem Tablett in der Mitte des Tisches lag auf einem weißen Teller ein rechteckiges Früchtebrot, von dem mehrere Scheiben schon abgeschnitten waren; gleich daneben standen Tassen und Untertassen.
    »Ich nehme doch an, Sie mögen Tee?«, sagte Hedden.
    »Danke, das wäre nett.«
    »Nichts Aufwendiges, fürchte ich. Einfache Teebeutel.«
    »Das ist in Ordnung«, sagte Lesley und lächelte.
    Der Kuchen war reichhaltig und zerbröckelte in ihren Fingern, als sie ihn in die Hand nahm. Er stellte ihr weitere Fragen über ihr Interesse an Stella Leonard und ›Splitterndes Glas‹, und sie erzählte ihm von Stephen und war noch einmal den Tränen nahe, als sie von seinem Tod sprach. War es eine Art

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