Splitterndes Glas - Kriminalroman
verzögerter Reaktion, dass es sie jetzt mehr mitnahm als zuvor, als das Geschehen noch viel näher gewesen war?
Um das Thema zu wechseln, fragte sie, während sie sich im Raum umsah, ob er Klavier spiele, und Hedden schüttelte den Kopf.
»Früher ja, eine Stunde oder mehr pro Tag. Nichts allzu Schwieriges. Mozart. Brahms. Nur die kürzeren Stücke. Nichts Kompliziertes. Aber jetzt, mit diesen Händen …«, mit gestrecktem Arm hob er seine rechte Hand, »klingt selbst das sanfteste Wiegenlied wie etwas aus ›Der Clou‹.«
|218| Lesley schüttelte den Kopf. Sie hatte den Film mal im Fernsehen gesehen – Robert Redford und Robert Shaw –, konnte sich aber nicht an die Musik erinnern.
»Ragtime«, sagte Hedden. »Dabei muss ich immer an Winifred Atwell denken. Sie sind natürlich viel zu jung, um sich an sie zu erinnern. Aber sie war ausgebildete Konzertpianistin. Und eine starke Frau. Westindisch. Ein schönes Lächeln. Sie kam in der Hoffnung hierher, Rachmaninov in der Royal Albert Hall zu spielen, und endete bei diesen Klimpernummern im Rundfunk. Das muss zu der Zeit gewesen sein, als wir ›Splitterndes Glas‹ drehten, natürlich, das war ihre Glanzzeit. Nicht dass es die Art von Musik ist, die ich mit dem Film assoziiere.« Hedden lachte. »Viel zu munter. Nein, ›Splitterndes Glas‹ ist vielmehr Slow Jazz in einem verrauchten Keller.«
Er schwieg, um einen Schluck Tee zu trinken.
»Es gab da diese Szene im Nachtclub, ein paar Musiker auf einer kleinen Bühne in einer Ecke: Piano, Bass und Schlagzeug. Jemand aus Ted Heaths Band am Saxofon. Bob Irgendwas? Bobby? Ich weiß es nicht mehr. Vielleicht ein Dutzend Tische am Set, viele Komparsen. Die Frau, die von Stella verkörpert wird, eine von ihnen – ich nehme an, Sie wissen, dass sie Zwillinge spielt – geht auf die Bühne und singt mit der Band. ›I Must Have That Man‹. Eines der Lieder, die Billie Holiday immer gesungen hat. Ich glaube, sie hatte sich sogar eine Nelke an ihr Kleid gesteckt. Genau wie Holiday. Ich hatte angenommen, sie würden jemand anderen für den Gesang nehmen und den Ton später unterlegen, aber nein, sie machte es ganz allein. Keine große Stimme, klein, aber sie konnte singen.
Das Drehen war allerdings ein Albtraum. Überall Rauch. An einem bestimmten Punkt Gaze vorm Objektiv. Curtis, der Regisseur, hat uns all diese Filme aus Amerika ansehen |219| lassen. ›Goldenes Gift‹. ›Der schwarze Spiegel‹. Dann zwei, die er selbst gedreht hatte. ›Tod bei Nacht‹, hieß der eine, an den anderen kann ich mich nicht erinnern. Der größte Teil des Sets im Schatten, weil es keinen nennenswerten Set gibt und ziemlich wenig Kulisse. Alles auch noch in zehn Tagen gedreht. Billig und schnell. ›Beleuchtet nur die Gesichter‹, sagte er immer. ›Mehr will ich nicht, lasst mich nur die Gesichter sehen.‹ Schwarz-Weiß, wissen Sie, aber viel mehr Schwarz als Weiß.«
Mit einem leichten Klappern setzte Hedden seine Tasse wieder auf die Untertasse.
»Wenn man allerdings bedenkt, mit welch knappem Budget der Film gemacht wurde, finde ich, dass er gar nicht so schlecht geworden ist.« Er beugte sich vor. »Sie haben den Film natürlich gesehen.«
»Nein, ich fürchte nicht. Inzwischen bekommt man offenbar in den Vereinigten Staaten eine DVD, wie ich bei Amazon festgestellt habe, aber weil es ein anderes System ist, kann man sie hier nicht abspielen.«
»Nun«, sagte Hedden, »ich habe eine alte 1 6-mm -Kopie. Die können wir uns ansehen. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, beim Aufbauen der Leinwand zu helfen.« Er war bereits auf den Füßen. »Vielleicht müssen Sie mir auch helfen, den Film in den Projektor einzufädeln.«
Die Handlung war trotz einer verwickelten Abfolge von heimtückischen Intrigen relativ simpel. Die gute Schwester, Alma, lernt den Mann ihrer Träume kennen, einen heroischen Chirurgen von untadeligem Lebenswandel namens Philip, der sich der Vermehrung der medizinischen Erkenntnis des menschlichen Hirns verschrieben hat. Sie nimmt seinen Heiratsantrag an, und die böse Schwester, Ruby, verspottet sie aus dem Abseits, wie nicht anders zu |220| erwarten. Es gibt eine Nebenhandlung, die sich um Ruby, eine betrügerische Nachtclubbesitzerin, und gestohlene Juwelen dreht, aber das Hauptinteresse der Geschichte gilt Rubys Eifersucht und ihrer Absicht, ihrer Schwester den Mann um jeden Preis wegzunehmen. Was ihr für eine gewisse Zeit natürlich auch gelingt.
In der Zuspitzung auf die Schlussszene –
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