Splitternest
geschehen, wenn die Goldéi kommen? Dann werden die Bathaquari außer Rand und Band sein. Ich habe solche Angst.« Ihre Finger krallten sich in der Bettdecke fest.
Hjele Geneder krümmte sich in den Kissen. Ihr Gesicht war wächsern und fleckig, die Wangen eingefallen. Die greisen Lippen formten ein Lächeln, als träume sie von einer besseren Zeit. Sie murmelte einen Namen.
»Baniter … mein Junge … wo bist du?«
Sinsala nickte stumm. Ja, wo war er, ihr Vater, und wo ihre Mutter? Warum waren sie nicht bei ihr in diesen Stunden? Warum musste sie an ihrer Stelle gegen die Priester kämpfen? Ihre Eltern waren immer so stolz auf Sinsala gewesen, hatten ihre älteste Tochter dafür gelobt, dass sie so erwachsen denken und sprechen konnte. Dann hatten sie sie allein gelassen, ihr die Verantwortung für das Fürstentum aufgebürdet, obwohl sie erst vierzehn Jahre alt gewesen war. Das machte Sinsala noch heute wütend. Sie hatte erfahren müssen, dass sie keineswegs erwachsen war, nicht denken und sprechen konnte wie eine reife Frau. Der Prior Levaste hatte ihr alle Macht aus den Händen genommen, und sie hatte nichts dagegen tun können.
»Es muss etwas geschehen«, fuhr sie fort. »Die Rituale im Tempel müssen aufhören. Aber wie kann ich es verhindern? Antworte doch!«
Hjele räusperte sich. Dann wandte sie den Kopf zur Seite, und Sinsala konnte den Atem nicht länger auf den Wangen spüren.
Traurig erhob sie sich. Sie blickte aus dem Fenster, auf den Fluss. Irgendwo am Ufer des Dumers spielten ihre Schwestern und genossen die Sonnenstrahlen. Sinsala hoffte, dass Banja und Marisa ein paar unbeschwerte Stunden erlebten. Wer wusste schon, was in den kommenden Wochen geschehen würde? Selbst die Goldéi fürchtete Sinsala nicht so sehr wie die Priester der Bathaquar.
Ein Knirschen, hinter ihr! Das Mädchen schreckte herum. Jemand drückte die Tür auf. Ein bärtiger Mann in einem Pelzmantel, schmutzig, abgenutzt. Er trat in den Raum mit schweren Stiefeln. Seine Augen flackerten, als er Sinsala erblickte.
»Hier bist du.« Er klang erleichtert. »Ich habe dich gesucht, Kleine, überall in der Burg. Es hat sich nicht viel geändert, seit ich zum letzten Mal hier gewesen bin.«
Sinsala wich zur Wand zurück. Der Mann war ihr fremd, doch er sprach in einer Weise zu ihr, die ihr unangenehm war. »Wer seid Ihr? Wie konntet Ihr in die Burg gelangen?«
Er lachte und fuhr sich mit seinem zerrissenen Handschuh über den Mund. »Die Torwächter kennen mich gut. Ich habe früher oft mit ihnen getrunken und mich im Bogenschießen mit ihnen gemessen, wenn deine Mutter mich wieder einmal warten ließ. Und sie hat mich oft warten lassen. Mein ganzes Leben lang.« Er trat näher. »Erkennst du mich nicht, Sinsala? Du warst noch ein Kind, aber alt genug, um dich zu erinnern. Du hast oft auf meinem Schoß gesessen und mit den Knöpfen meines Mantels gespielt, und ich habe dir und deinen Schwestern gebrannte Nüsse geschenkt. Weißt du das nicht mehr?« Seine Lippen waren trocken vom Sprechen. Kleine Hautfetzen standen von ihnen ab.
Die Worte lösten etwas in Sinsala aus; den Nachhall einer Erinnerung. Ja, nun schmeckte sie wieder die salzige Kruste gebrannter Nüsse auf der Zunge, hörte das raue Lachen eines Mannes, der ihren Kopf streichelte.
»Talomar Indris«, sagte sie langsam. »Ich erinnere mich. Ihr wart vor ein paar Jahren … unser Gast.«
»Gast! Ja, ein Gast!« Er lachte. »Hat sie das gesagt, deine Mutter? Hat Jundala mich tatsächlich ihren Gast genannt?«
Er ballte die Faust. Der eingestickte goldene Krebs auf dem Handschuh krümmte sich. »Vielleicht war ich das – nur ein Gast in ihrem Leben. Und sie hat mich oft genug als Gast empfangen, überall in der Burg. Auch hier in diesem Raum. Auf diesem Bett.« Er deutete auf das Lager. »Dort wurde geliebt und gevögelt, auf blutigen Decken, Stunden um Stunden. Jetzt siecht Baniters greise Mutter auf den Kissen dahin, in denen ich Jundala bestiegen habe. Ja, vieles hat sich verändert.« Er trat dicht an das Mädchen heran. »Wo ist sie? Alle sagen, dass Jundala fort ist, nach Vara gegangen und dort verschollen. Was weißt du darüber, Kleine?«
Sinsala schüttelte heftig den Kopf. »Ihr … kommt umsonst, Herr Indris. Keiner weiß, was aus unserer Mutter geworden ist. Aus Vara dringt keine Nachricht mehr nach Gehani, und die letzte berichtete von ihrem spurlosen Verschwinden.« Sie hielt inne, als sie Talomars Augen aufblitzen sah.
»Verschwunden!« Er schlug
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