Splitternest
finden würde. Nichts davon ist geschehen.«
Levaste befreite sich aus seinem Griff. »Rumos hat die Prophezeiung eben zu wörtlich genommen. Die Auserkorenen spielen die Rollen, die ihnen vorherbestimmt sind: Lichtgestalten zu sein in einer Zeit der Finsternis. Wir sind nicht länger auf sie angewiesen.« Seine Stimme klang nun fast heiter. »Unsere Hoffnung ruht auf Uliman. Er ist der Auserkorene, den wir uns selbst erschaffen haben! Ich war dabei, als Rumos ihm den Knochen gab … wir zermahlten ihn mit einem Silberstab, mischten ihn in Milch und flößten sie dem Prinzen ein. Er trank in großen Schlucken, während wir einem Schwan mit dunklem Gefieder die Kehle durchschnitten, das Blut des sterbenden Vogels auf seinem Haupt verspritzten. So kam der Fluch der Sphäre über Uliman, band das Kind für immer an die Bathaquar. Es wird uns nicht enttäuschen.« Levaste breitete die Arme aus. Sein linker Fuß glitt fast über den Rand der Terrasse, aber er fing sich wieder. »Dieser Knabe kann der Ewigen Flamme widerstehen; er ist nicht innerlich zerrissen von dem Wunsch, sie zu beherrschen, und der Furcht, beherrscht zu werden. Uliman wird den Hauch von Nekon über die Welt bringen und alle Schwachen dahinraffen. Schon morgen, am Tag der Ernte, werden wir es sehen … wir werden sehen, wer Tathril dient und wer ihn verrät! Und es wird ein Opfer geben, ja, ein hübsches Opfer. Ein kleiner Luchs wird bluten müssen, damit Tathril uns erhört und Uliman zurückkehrt und Gharax uns erhalten bleibt!«
Die Worte hallten laut über die Terrasse. Levaste begann zu tanzen; ein alter Mann in einem dreckigen Priestergewand, das Haar schütter, das Gesicht verbraucht, und die troublinischen Priester neigten die Köpfe und murmelten die ersten Worte der Prophezeiung, »der Rosenstock trägt keine Blüten mehr«, wieder und wieder, eine düstere Untermalung des irrwitzigen Tanzes am Abgrund.
Sinsala öffnete vorsichtig die Tür und trat in die Kammer. Durch das Fenster fielen Sonnenstrahlen ein. Ein Vorhang wehte sanft im Wind und strich über das Bett. Unter der Daunendecke lag eine alte Frau, schlafend, der schmale Mund halb offen. Sinsala schlich zu ihr und blickte zärtlich auf sie herab.
»Es ist gut, dass du schläfst«, sagte sie. »Ruhe dich aus … besser, als wach zu sein, solange die Bathaquar herrscht.«
Die alte Frau war ihre Großmutter, Hjele Geneder. Seit Jahren war sie bettlägerig, konnte das Zimmer nicht ohne fremde Hilfe verlassen. Hjele schlief Tag und Nacht, wachte nur selten auf. Dann rief sie mit dünner Stimme nach Baniter, ihrem Sohn; bat ihn, zu ihr zu kommen, sie aus dem Bett zu heben und mit ihr am Dumer spazierenzugehen. »Baniter, mein Junge«, weinte sie dann in ihr Kopfkissen, und Tränen flossen aus den milchigen Augen, »wo bist du, kleiner Luchs? Warum bist du nicht bei mir?« Wer immer sie in diesem Zustand vorfand, sich an das Bett setzte und ihr Wasser oder aufgeweichtes Brot reichte, den sprach Hjele mit demselben Namen an, »Baniter, mein Luchs«, streichelte die ihr entrückten Gesichter und weinte ihren alten, wirren Schmerz in das Kopfkissen.
Sinsala liebte ihre Großmutter über alles. Sie erinnerte sich gut an die Zeit, als Hjeles Verstand noch scharf gewesen war wie eine Klinge. Wie oft hatte Sinsala in diesem Zimmer gesessen und mit ihr geplaudert, sich von den Jahren erzählen lassen, als Hjele jung gewesen war und Baniter zur Welt gebracht hatte? Sie hatte die alte Frau stets bewundert, ihre Klugheit, ihr Wissen. Nun sah sie voller Mitleid auf ihre Großmutter herab. Hjele schlief friedlich; sie wusste nichts von den Ereignissen in Gehani, nichts von den Ritualen der Bathaquar und den Siegen der Goldéi. Sie ruhte in sich, und wenn Sinsala sie dabei beobachtete, schrumpfte die ganze Welt auf den Atem der alten Frau. Sinsala wusste, dass er eines nicht mehr fernen Tages abreißen würde – aber für sie trug er doch alles Leben, alle Wärme in sich. Sie beugte sich über das Bett, bis sie den zarten Hauch im Gesicht spürte, strich vorsichtig über Hjeles Wangen, und ein dicker Kloß schmerzte in ihrem Hals.
»Was soll ich tun, Hjele?« flüsterte sie. »Die Bathaquar richtet alles zugrunde. Ich versuche, mit Levaste zu reden, das letzte bisschen Vernunft in ihm zu entdecken. Aber er ist völlig wahnsinnig. Je verzweifelter seine Lage wird, desto brutaler behandelt er das Volk. Im Tempel wird Blut vergossen, Hjele. Noch geben die Menschen es freiwillig. Aber was wird
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