Splitternest
Rillen. Andere waren gut zu erkennen, als wären sie erst am Morgen eingemeißelt worden.
Aelarian Trurac hockte auf der Straße. Behutsam glitten seine Finger über die Steine. Einer von ihnen war lose. Der Großmerkant wendete ihn und entdeckte auch auf der Unterseite das Rosenzeichen: die Blüte offen, der Stiel mit Dornen besetzt.
»Rosen, überall Rosen«, murmelte er. Wie lange mochte es gedauert haben, all diese Zeichen in die Straße zu hämmern? Wie viele Menschen hatten diese öde Arbeit verrichtet? Oder war es das Werk eines einzelnen beklagenswerten Steinmetzen gewesen?
Der Großmerkant kannte die Legende von Athyr’Tyran. Er war vor vielen Jahren auf sie gestoßen, als er im Haus Moorbruch die Magie erforscht hatte … in einer zerfressenen Schriftrolle, die der Zirkel aus einem Archiv in Taruba entwendet hatte. Aelarian hatte sie aufmerksam studiert. Die Fischerstochter Kahida und ihr Pakt mit den Sphärenwesen; die Gründung von Athyr’Tyran, die den Menschen eine Zuflucht gewesen war; der Krieg gegen die Sphäre und Athyr’Tyrans Zerstörung … all diesen Legenden, so wusste Aelarian, wohnte eine geheime Botschaft inne. Diese Botschaft hatte der Zirkel von Moorbruch entschlüsseln wollen.
Aelarian erinnerte sich gut an eine Auseinandersetzung, die er eines Abends vor der Pforte des alten Wirtshauses geführt hatte. Nebel hatte über dem Moor gehangen, die Fassade des Wirtshauses war von einer einsamen Fackel erhellt worden, und sie hatten auf der Treppe gesessen und über Athyr’Tyran gesprochen: drei Wissbegierige, die in der Abgeschiedenheit des Moors den Geheimnissen der Sphäre nachgegangen waren. Die anderen Mitglieder des Zirkels waren am Nachmittag nach Taruba zurückgeritten, enttäuscht über die mäßigen Erfolge an jenem Tag. Nur diese drei Männer hatten bis zum Anbruch der Dunkelheit im Moor ausgeharrt. Sie hatten versucht, der Schriftrolle zu entlocken, warum Athyr’Tyran untergegangen war und wie sich die Magie der Quellen dadurch verändert hatte. Als die Nacht hereingebrochen war, hatten sie die Schriften beiseite gelegt und sich vor die Pforte gesetzt, um den aufsteigenden Nebel zu beobachten, die Irrlichter und umherschwirrenden Glasfalter. Eine Weile hatten sie stumm auf das Moor geblickt. Dann hatte Aelarian das Schweigen gebrochen.
»Es ist hoffnungslos. Wir glaubten, aus dem Schicksal Athyr’Tyrans etwas über die Sphäre zu lernen. Aber die Schriften hüten ihr Geheimnis gut. Es ist, als irrten wir da draußen im Moor herum … wir stecken im Sumpf fest und kommen nicht voran.« Mit diesen Worten hatte er einen Kiesel, mit dem er die ganze Zeit gespielt hatte, in hohem Bogen in das Moor geworfen.
»Schön gesprochen, Aelarian Trurac«, hatte einer der anderen Männer gesagt, ein älterer Kaufmann aus Oublin. Er hatte lange Zeit der Großgilde angehört, sich dann aber der Magie zugewandt, obwohl dies nur Tathril-Priestern und Zauberern erlaubt war. »Aber auch im Sumpf blühen kostbare Blumen. Hast du schon einmal von der Nachtrose gehört? Ein bildhübsches Gewächs … ihre Blüte ist zart, ihr Stiel gläsern und hauchdünn. Man kann sie nur im Moor finden, und auch dort ist sie selten; doch aus ihr lassen sich wertvolle Tränke gewinnen, die den Geist schärfen. Du siehst, Aelarian, Erkenntnis lässt sich auch an Orten finden, die schwer zugänglich sind.«
»Was willst du damit sagen?« hatte Aelarian spöttisch gefragt. »Dass wir weiter im Sumpf herumplanschen sollen, bis uns die Rose der Erkenntnis blüht? Dann verirren wir uns auf schlammigen Pfaden und versinken in Untätigkeit.«
»Ich sage nur, dass wir nicht vorschnell aufgeben dürfen. Die Geschichte von Athyr’Tyran hat einen tieferen Sinn. Wir sollten nicht annehmen, ihn durch bloßes Stöbern in den Schriften entdecken zu können.« Der Kaufmann hatte die Stimme gesenkt. »Wir wissen bereits einiges über die Magie, und doch schrecken wir davor zurück, die Sphäre selbst zu nutzen, um unsere Erkenntnisse zu vertiefen. Ich weiß, dass wir noch keine Zauberer sind … aber es gibt einen Weg, sich der Sphäre zu öffnen. Wir müssen den Stimmen lauschen, die aus ihr dringen.«
Aelarian hatte den Kaufmann stirnrunzelnd angesehen. »Das kann nicht dein Ernst sein! Willst du die Kraft des Grauen Hügels nutzen? Deine Sinne der Äußeren Schicht dieser Quelle öffnen? Die Tathril-Priester würden es bemerken und uns im Moor aufstöbern. Wir alle haben geschworen, diesen Schritt erst zu tun, wenn unser
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