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Splitternest

Titel: Splitternest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markolf Hoffmann
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Fünf? Sie wusste es nicht. Die Goldéi hatten die Eisenkiste nur zweimal geöffnet, um ihr Wasser und Brot zu reichen. Die restliche Zeit hatte Ashnada allein in der Dunkelheit verbracht. Halb wach, halb im Traum hatte sie den Stimmen der Echsen gelauscht. Ihre Sinne waren betäubt von dem Feuer, das in ihr pulsierte. Durta Slargins Knochen … sie hielt ihn noch immer in der Tasche ihres Hemds verborgen. Die Goldéi hatten ihn nicht entdeckt, als sie Ashnada in die Kiste gesperrt hatten. Die Ewige Flamme brannte noch immer in ihr, und Ashnada wartete darauf, sie zu entfachen und zu fliehen.
    Blut von meinem Blut, Fleisch von meinem Fleisch, beseelt von meinem Willen. Tarnacs Stimme hallte in ihren Gedanken, drängend und beschwörend; ihr königlicher Bruder, Herr ihres Schicksals … sie dachte mit Zärtlichkeit an ihn. Eine Erinnerung stieg in ihr auf, aus den Jahren, als sie eine Geschworene des Königs gewesen war. Seltsame Bilder: ein Fluss im Sommer, funkelnde Sonnenstrahlen auf den Wellen. Aus der Ferne der schrille Gesang der Brashii, der gyranischen Drehleiern; sie hatten vom Sieg gekündet. Kurz zuvor hatte ein Scharmützel am Flussufer getobt: candacarische Krieger hatten auf einem Floß nach Gyr übergesetzt, um einen Mitstreiter zu befreien. Dieser war aus Leichtsinn in Gefangenschaft der Gyraner geraten. Tarnac selbst hatte die Eindringlinge mit dem Schwert empfangen, an seiner Seite die Igrydes, seine Leibwächter. Ein blutiger Zusammenprall am Ufer … schon waren die Leichen der Candacarer im Strom getrieben, ihre Flöße hatten lichterloh gebrannt, und der Todesschrei des Gefangenen hatte aus den Flammen gegellt. Er war bald von den Klängen der Brashii übertönt worden. Gyrs König hatte dem Nachbarreich gezeigt, wer über den Westen von Gharax herrschte.
    Als der Fluss von der Abendsonne in goldenes Licht getaucht worden war, hatte Tarnac die Igrydes am Ufer zusammengerufen. »Es wird sich in Candacar herumsprechen, dass ich diesen Vorstoß eigenhändig zurückgeschlagen habe«, hatte er mit heiserer Stimme verkündet. »Kein Mitleid, keine Gnade für den, der mich herausfordert, ob vor oder hinter der Grenze.« Jeder der Igrydes hatte die Worte verstanden. Dann hatte der König das Hemd ausgezogen und war mit entblößtem Oberkörper in den Fluss gewatet. »Den Göttern zu Ehren will ich im Blut meiner Feinde baden. Sie schützen mich und alle, die mir treu sind.« Welcher Irrsinn; am anderen Ufer hatte noch immer ein versprengter Trupp der Candacarer gelauert. Die Igrydes waren Tarnac hinterher gestürzt, um seinen Leib zu schützen. Blut von meinem Blut, Fleisch von meinem Fleisch … unzählige Pfeile waren von der candacarischen Seite abgefeuert worden, und sie hatten manche Brust durchbohrt. Tarnac aber war im flachen Wasser zum Ufer zurückgewichen; lächelnd hatte er beobachtet, wie seine Leibwächter in den Fluss sanken, wie ihr Blut das Wasser färbte. Erst nach einer Weile hatte er ihnen erlaubt, sich vor dem Pfeilhagel in Sicherheit zu bringen.
    Ashnada war unter den Überlebenden gewesen. Als sie ans Ufer gestiegen war, die Schulter durchbohrt von einem Pfeil, hatte Tarnac sanft ihre Wangen und Schultern berührt, »meine Schwester, meine teure Schwester«, hatte dann ihre Stirn geküsst, sein Blick voller Wärme.
    Es war nur eine von vielen Erinnerungen, eine der Fesseln, mit denen Tarnac sie an sich gebunden hatte. Ihm nahe zu sein und zu dienen, für ihn zu leben und zu sterben war alles, was Ashnada sich damals ersehnt hatte. Und doch hatte sie ihn verraten, erst in Gedanken, dann in Wort und Tat. Nach den Jahren auf Morthyl hatte sie ihn zu hassen gelernt und geschworen, Rache zu nehmen, da er sie an die Sitharer ausgeliefert hatte. Wie verblendet ich war! Ich habe an meinem königlichen Bruder gezweifelt. Ich habe versäumt, für ihn in den Tod zu gehen wie die anderen Igrydes. Erst auf Vodtiva hatte sie ihren Irrweg eingesehen. Und Tarnac hatte ihr in seiner Großmut verziehen, hatte sie mit offenen Armen aufgenommen. Nun musste Ashnada sich als würdig erweisen und seinen letzten Befehl ausführen: den Zauberer Rumos zu töten, der wie sie auf Tyran gestrandet war; Rumos Rokariac, der ihr den Knochen gegeben und die Ewige Flamme in ihr entzündet hatte. Er musste sterben, so hatte Tarnac es befohlen … erst dann konnte Ashnada aus dem Leben scheiden.
    »Rumos«, flüsterte sie. »Wo immer du bist, der Knochen wird mich zu dir führen.« Und dann – beende es.
    An eine

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