Splitternest
immer deutlicher … eine Stimme, die ihn mit Gesängen umworben hatte und ihn fortan viele Jahre begleiten sollte. Er war zu einem Mondjünger geworden. Er hatte dies freilich vor dem Zirkel geheim gehalten – bis zum Niedergang von Haus Moorbruch. Rumos’ Wahn, sein Ausschluss aus dem Zirkel, der schreckliche Brand, der das Wirtshaus bis auf die Grundmauern vernichtet hatte … all dies hatte Aelarian erschüttert, und er hatte der Magie bald darauf abgeschworen.
Doch Mondschlunds Stimme hatte ihn nie mehr verlassen. Immer wieder hatte sie ihn in seinen Träumen aufgesucht, ihn gelockt und umworben, ihm rätselhafte Worte zugeraunt und versucht, seine Neugier zu wecken. Oft hatte sie für Jahre geschwiegen, um ihn dann wieder zu bedrängen. Und schließlich hatte er Aelarian angefleht, nach Tyran zu fahren … auf der Suche nach dem Auserkorenen, den er so sehr fürchtete.
»Warum mich?« knurrte Aelarian, während er den Stein mit dem Rosenzeichen in das Pflaster zurückschob. »Warum sandte er ausgerechnet mich, seinen vorlautesten, wankelmütigsten Anhänger? Warum keinen mächtigen Zauberer?«
Aber er kannte den Grund. Mondschlund hatte ihn erwählt, weil Aelarian den Priester Rumos aus früheren Tagen kannte: Rumos Carputon oder Rumos Rokariac, wie er sich seit dem Untergang von Haus Moorbruch nannte. Aelarian kannte seine Geheimnisse, seine Schwächen, seine Zerrissenheit. Sie hatten dasselbe Ziel verfolgt, all die Jahre lang, hatten beide auf der Suche nach Erkenntnis das Moor durchschritten: Rumos auf den Pfaden der Bathaquar, Aelarian in den Gängen von Mondschlunds Verlies. Nur gemeinsam hatten sie das Silbermeer überqueren und den Leuchtturm von Fareghi bezwingen können. So waren sie beide nach Athyr’Tyran gelangt, und steinerne Rosen begrüßten Aelarian, so wie im Moor die Nachtrosen den einsamen Wanderer …
Nachdenklich schritt er weiter, über ihm die Sonne, die dem Horizont entgegensank. Die Straße führte quer durch die Ruinenstadt. Auf beiden Seiten standen zerfallene Mauern, die Reste eines Stadttors, ein zusammengesackter Turm, zerborstene Säulen, eingestürzte Steinkorridore. Aelarian entdeckte links der Straße einen alten Kanal, dessen Wände eingebrochen waren und der Sand statt Wasser führte; daneben die Ruine eines Badhauses. Das Beckenmosaik war noch deutlich zu erkennen. Alles war verfallen und verschüttet. Und doch zeugten die Trümmer von der einstigen Pracht dieser Stadt. War Athyr’Tyran tatsächlich die Wiege der Menschheit gewesen? Lag hier der Ursprung aller Kunstfertigkeit und Begabung, die dem Menschen eigen war? Nichts davon war übrig geblieben. Die Sphärenwesen hatten die Stadt verwüstet. Und Aelarian war allein an diesem gespenstischen Ort, sein Diener Cornbrunn verschollen im Verlies der Schriften. Nicht einmal sein Kieselfresser Grimm leistete ihm noch Gesellschaft. Mehr als einmal ertappte sich Aelarian dabei, in der Tasche seines Gewands nach ihm zu tasten. Er vermisste seine Wärme, sein empörtes Schnaufen und den wütenden Biss in den Handballen, wenn Grimm schlechter Laune war.
»Ich hoffe, er amüsiert sich gut mit Knauf und Cornbrunn, da unten im Verlies. Nicht, dass er sich verirrt.«
Das galt auch für Aelarian selbst. Je tiefer die Sonne sank, desto unheimlicher wurden ihm die Ruinen. Er fühlte sich beobachtet.
»Die Stadt der Geister … falls es hier wirklich spukt, wie der Schattenspieler behauptet, dann stehe ich dumm da.« Er tastete nach den Scherenschnitten. Ihre Ränder waren so scharf, dass er sich fast die Fingerkuppe ritzte.
Die Straße endete vor einem Felsen, in den ein Durchgang geschlagen war. Eine gewundene Treppe führte in die Tiefe. Unten war Tageslicht zu erkennen. Es musste der Zugang zu einem tieferen Bereich der Stadt sein. Mit mulmigem Gefühl schritt Aelarian die Stufen hinab. An der Felswand prangte wieder das Zeichen der Rose. Über dem Blütenkopf schimmerten zwei Symbole, ein Stern aus schwarz verfärbtem Silber und eine Mondsichel aus Gold.
»Mondschlund«, stieß Aelarian hervor.
Er schloss die Augen, horchte in sich hinein. Warum schwieg Mondschlund, nun, da er am Ziel seiner Reise war? Warum wies er ihm nicht den Weg zu dem Auserkorenen – und zu Rumos?
Dann aber vernahm er doch ein Geräusch. Ein Zischen … es drang von der Straße herab. Etwas näherte sich dem Durchgang, und dies äußerst schnell. Zu schnell für einen Menschen!
Hastig suchte Aelarian nach einem Versteck. Er fand eine Felsspalte
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