Splitternest
Flucht war jedoch nicht zu denken, solange die Goldéi in der Nähe waren. Ashnada achtete auf die Geräusche außerhalb der Kiste. Sie wusste nicht, was die Echsen mit ihr vorhatten. Eine Hinrichtung nach so vielen Tagen war unwahrscheinlich. Was immer sie tun wollen, sie werden es bereuen. Die Ewige Flamme wird mich verzehren, das weiß ich … euch Bestien nehme ich mit in den Tod.
Schritte. Jemand näherte sich der Kiste. Ashnadas Hand wanderte in die Tasche ihres Hemds, umklammerte das Knochenstück. Der Deckel wurde fortgezogen. Sie blinzelte, um die Augen vor dem Sonnenlicht zu schützen.
Eine Klaue zerrte sie aus der Kiste. Der Griff war weich und kühl. Als sie die Augen aufriss, sah sie sich von mehreren Wesen umringt – bleiche Geschöpfe, ihre Körper aus Nebel, nur die Augen und Münder waren schwarz. Zu ihren Füßen erkannte Ashnada die Klippen Tyrans. Unweit funkelte das Meer … und die goldenen Schiffe.
»Bist zornig«, fauchte eines der Geschöpfe. »Hast sechs Tage im Schutz des Eisens zugebracht. Sollte dich zähmen. Aber an dir haftet der Fluch der Sphäre. Das Eisen kann ihn nicht brechen.«
»Bist keine Zauberin«, fiel das zweite ein, »und trägst doch das Mal der Feuerschänderin. Müssen dich durch das Silber gehen lassen, wie die anderen.«
Das Nebelwesen setzte einen Schritt auf sie zu. Seine Füße berührten den Boden kaum, schwebten über den kantigen Steinen. Kalte Krallen packten ihren Nacken. Alle Versuche, sie abzuwehren, waren vergeblich. Sie stürzte zu Boden. Dort klaffte ein Spalt im Gestein. In ihm brodelte flüssiges Silber, aus der Tiefe emporgestiegen. Die beißenden Schwaden ließen ihre Augen tränen.
»Fürchtest dich umsonst. Erlösen dich nur von deinem Leid. Kannst die Macht der Sphäre nicht länger ertragen, sonst zerreißt sie dein Herz. Dein Körper wird verstümmelt sein, aber dein Geist frei.«
»Lasst mich!« keuchte Ashnada. »Lasst mich gehen, oder ihr sterbt.«
Die Goldéi ließen nicht von ihr ab. »Müssen die Flamme in dir ersticken … die Feuerschänderin hat sie der Sphäre entrissen. Wird Zeit, sie auszulöschen.«
Sie wissen von der Ewigen Flamme, aber nichts von dem Knochen. Ashnada spürte die Gluthitze in ihrer geballten Faust. Ihr ganzer Körper war angespannt.
Aus der Ferne drang ein Geheul. Nasse, peitschende Geräusche, die näher kamen. Aus den Augenwinkeln sah Ashnada ein nebeliges Gebilde, riesig, unförmig. Es sauste in ihre Richtung, hielt jedoch auf den Felsen inne und reckte den Kopf, als schnuppere es nach ihr.
»Einer unserer Brüder«, flüsterte der Goldéi, der ihren Nacken gepackt hatte. »Gehäutet vom Fluch der Feuerschänderin. Musst durch das Silber gehen, ehe er dich wittert. Sein Hass auf die Menschen ist groß. Können dich nicht vor ihm schützen.«
Er zwang ihren Kopf zu Boden. Sie spürte die Hitze des kochenden Silbers. Mich schützen die Götter, rief sie sich in Erinnerung. Ich bin ein Igrydes, eine Geschworene des Königs von Gyrs. Sie schloss die Augen, lauschte dem Knistern der Flamme in ihrer Hand.
»Warte«, stieß einer der Goldéi hervor. »Hat uns noch immer nicht gesagt, was sie nach Tyran führte. Was sie hier wollte. Weiß vielleicht, wo Laghanos ist. Soll sprechen!«
Ashnada schüttelte den Kopf.
»Musst sprechen! Drafurs Erbe ist verschwunden. Suchen ihn seit Tagen überall. Bei Kahidas Grab verloren wir seine Spur. Kennst ihn? Weißt, wo er ist … Laghanos, der Träger von Drafurs Maske? Musst alles sagen, was du weißt!«
Der Auserkorene … der Knabe, den Rumos die ganze Zeit suchte. Hat er ihn gefunden? Dann muss ich rasch handeln.
Sie atmete ein. Hinter ihr kreischte der Gehäutete auf, das riesige Nebelwesen auf den Klippen. Es hatte Ashnada erspäht. Ihr Herz raste.
Die Flamme loderte, der Knochen in ihrer Faust verwandelte sich in flüssiges Feuer, das sie mit einem Schrei auf die Goldéi schleuderte. Die Macht der Sphäre jagte durch ihren Körper, und sie wusste, dass sie ihr nicht gewachsen war, ihr nicht standhalten konnte.
Aber es war zu spät. Die Flamme war entfesselt. Die Welt um Ashnada versank in Glut …
Die Straße war alt, das Pflaster aufgebrochen. Viele Steine waren zersprungen; Wind und Regen hatten die Kanten abgeschliffen. Doch sie alle trugen das Zeichen einer blühenden Rose, eingraviert vor Jahrhunderten … ein Feld aus Rosen, das in steinerner Stille von Athyr’Tyrans vergangener Pracht kündete. Einige waren verwittert, kaum mehr als gewundene
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