Splitternest
er, würden aus dem Verlies emporschlagen. Vara würde brennen, und alle Menschen, die hinter ihre Mauern geflohen waren, würden sterben. Schon einmal hatte Nhordukael eine Stadt ausgelöscht … die Stadt Thax. Damals hatte ihn der Hass auf die Kirche zu dieser Tat getrieben, sein Hass auf Magro Fargh und die Priester. Er wollte nicht noch einmal von ihm übermannt werden.
»Wir sind keine Sklaven«, sagte er leise zu sich. »Wir haben einen freien Willen. Und ich will diesem Krieg ein Ende machen. Vara soll nicht für die Taten von Mondschlund und Sternengänger büßen.«
Er drehte sich zur schwarzen Mauer um. Die Skulptur ragte leblos aus dem Metall. Baniters Gesicht wirkte gequält, die Lippen schartig. Sein Wispern war kaum zu verstehen.
Nhordukael umschloss den Stab fest. Er drückte die Spitze sanft gegen Baniters Stirn. Das Gold funkelte auf. Nhordukael spürte einen kurzen Widerstand. Schon verflüssigte sich das Metall der Mauer. Er stieß nun fester zu, drückte mit dem Stab gegen die Skulptur.
Die Wand glich geschmolzenem Wachs. Mit einem schmatzenden Laut verschwand Baniters Kopf in dem Schlüssel, dann seine Hände, dann das Buch …
Die Magie des Stabs wirkt! Nhordukaels Herz pochte schnell. Ich kann die Sphäre beeinflussen!
Er stocherte in der Mauer, die zu einer glatten, glanzlosen Fläche geworden war. Das Ende des Stabs versank in ihr. Nhordukael atmete tief durch.
Nur ein Schritt, ein einziger Schritt, um sie zu durchschreiten, um Baniter zu finden … und auch Mondschlund. Ich höre seinen Gesang! Er hält den Fürsten gefangen, er zwingt ihn dazu, seine Stadt zu errichten.
»Wir sind keine Sklaven!«
Mit einem entschlossenen Schritt stieg Nhordukael in die Mauer. Der Schwarze Schlüssel nahm ihn auf. Sein Körper verschmolz mit der Sphäre; und eine Flammenspur folgte ihm … brennende Fußspuren und der Abdruck eines Wanderstabs.
»Mir nach … folgt mir … folgt dem Schwan!«
Schlurfende Schritte, taumelnde Füße, zerfetzte Schuhe. Sie drängten sich erschöpft aneinander, ihre Köpfe gesenkt, die Bündel fest in ihren Händen. Die Kinder hatten kaum noch Kraft zu weinen; zu viele Tränen hatten sie vergossen. Doch auch sie mussten weiterschreiten, durch den Gang, dessen Wände in einem unheimlichen Licht erstrahlten … grün glimmendes Moos, das aus allen Ritzen wucherte.
»Folgt mir! Folgt Uliman …«
An der Spitze des Trosses taumelte Sinustre Cascodi. Ihr blasser Mund stand offen, die Haare hingen ihr wirr ins Gesicht. Immer wieder blickte sie sich nach den Menschen um, riss einen von ihnen am Kragen vorwärts, damit er schneller ging. Auf ihrer Stirn prangte das Rosenzeichen, verkrustetes Blut auf bleicher Haut.
»Folgt Uliman … er führt uns zu Sternengängers Insel … er schenkt sie uns … und wer zurückbleibt, wer nicht sein Zeichen trägt, der muss durch das Tal von Nekon schreiten … der muss den Todeshauch atmen … voran, voran!«
Sinustre blieb stehen. Vor ihr lag eine Wegkreuzung; mehrere Gänge trafen aufeinander. In einem von ihnen glommen gläserne Augen auf, und das Fauchen des Schwans war zu hören. Er spreizte die Flügel und flatterte zu der Menschengruppe zurück. Seine Schwingen verloren dunkle Federn.
»Hört mich an!« Sinustre wisperte die Worte, die der Schwan ihr eingab. Ihre verstümmelte Zunge bebte zwischen den Lippen. »Bald sind wir am Ziel! Ich spüre den Ausgang … er ist nicht mehr weit! Traut ihr mir nicht? Zweifelt ihr an Uliman? Nur ich kann euch von Sternengängers Joch befreien … folgt mir!«
Der Schwan fauchte. Kurz flog er über die Köpfe der Menschen hinweg, wirbelte wieder herum und flatterte aufgeregt über Sinustres Kopf.
»Schnell! Die Schatten nahen … sie suchen uns … wollen uns aufhalten! Weiter … beeilt euch … so schnell die Füße euch tragen!«
Nun rannten sie; Troublinier und Varoner, Staker und Kaufleute: Sie alle folgten dem Schwan, der mit einem schrillen Kreischen in einen Gang flog. Dieser führte abwärts, in die Tiefe.
Als sie verschwunden waren und ihre Schritte verhallten, erlosch das Schimmern des Mooses. Schatten flossen aus den Mauerritzen, krochen über die Wände, ballten sich zusammen und folgten den Fliehenden. Das Verlies wollte nicht, dass jemand die Gänge durchschritt; es wollte all jene aufspüren, die sich dem Herrn der Schatten entzogen.
Die schwarze Wolke floss schneller, immer schneller … ein zäher Sud, der alles Licht verschlang. Schon hatte sie die Wegkreuzung
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