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Splitternest

Titel: Splitternest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markolf Hoffmann
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Sturms ein, rissen ihn in die Tiefe, wo er das Wasser in reißende Strudel zwang, die alles Leben verschlangen. Tarnacs Ärmel schlackerten im Wind. Am linken Handgelenk glomm ein goldener Armreif auf. Er vollführte eine weitere Geste, hieß die Wolken willkommen, huldigte ihnen stumm. Erst nach einer Weile begann er zu sprechen, so leise, dass seine Worte sich im Wind verloren.
    »Sechs Tage wütest du nun und willst nicht zur Ruhe kommen.« Tarnac setzte den angewinkelten Fuß ab und starrte auf das Meer. »Kein Mensch wird deine Wasser je wieder überqueren, und auch kein Goldéi. Es ist wahr: Gharax liegt hinter uns. Gharjor hat es uns entrissen.«
    Zwei Männer traten an seine Seite. Ihre Gesichter waren mit Tuschezeichen geschminkt, und sie trugen die weitgeschnittenen Röcke der Solcata-Loge. Nur wenige Zauberer der Loge hatten den König nach Vodtiva begleitet; diese zwei waren Hüter der Quelle von Gharjas gewesen. Zugleich waren sie Mönche des Sturmgottes. Sie verehrten Gharjor, den zornigen Herrn der Wolken, des Gewitters und des Sturzregens.
    »Gharax liegt hinter uns«, wiederholte einer der Zauberer. »Der Gott des dunklen Himmels straft alle, die sich von ihm ab wandten, mit einem letzten Sturm; dem Sturm, der alles vernichtet. Euch aber, mein König, in dessen Adern sein Blut fließt, rettet Gharjor, und alle, die Eure Herrschaft anerkennen.«
    Tarnac lächelte dünn. Seit jeher galten Gyrs Könige als Nachfahren des Sturmgottes. Er war der letzte, der als ein Sohn Gharjors verehrt wurde. »Der letzte Sturm. Ja, das ist er wohl. Er wird wüten, bis Gharax in den Wellen verschwunden ist. Wir müssen uns damit abfinden.« Er deutete nach Osten, auf das Wasser. »Blickt dort hinab. Sagt mir, was ihr seht.« Es war ein knapp gesprochener Befehl, der keinen Widerspruch zuließ.
    Der Zauberer verneigte sich. »Ich sehe das Meer, aufgewühlt von Gharjors Zorn. Ich sehe die Insel Firth, gegen deren Küste die Wellen branden. Ich sehe …«
    »Genug«, unterbrach ihn Tarnac. »Du siehst nicht richtig hin, Mönch. Dort ist keine Insel zu sehen, kein Wasser, kein Meer.« Er winkte den zweiten Zauberer zu sich. »Sprich du. Du hast mich damals auf den See Velubar begleitet. Du warst an meiner Seite, als die Galeere das neue Land erreichte. Was siehst du?«
    Der zweite Zauberer, ein jüngerer Mönch mit spärlichem Haar, kniff die Augen zusammen. Seine Stimme stockte. »Ich … bin mir nicht sicher. Alles verschwimmt vor meinen Augen. Mir ist, als blickte ich durch Glas. Und doch sehe ich die Küste, von der Ihr sprecht. Zerrissen ist sie, schwarz, eine Linie aus zerklüftetem Gestein. Sie zieht sich bis zum Horizont.« Er taumelte und brach auf die Knie. »Mein König, das Land … es ist dort und ist nicht dort, ich sehe es und kann es doch nicht mit allen Sinnen erfassen. Was geschieht mir? Meine Augen schmerzen und brennen.« Er senkte den Kopf.
    »Habe keine Angst«, antwortete Tarnac. »Deine Augen täuschen dich nicht. Du siehst das Land, das Gharjor mir geschenkt hat. Denn du warst an meiner Seite, als ich es entdeckte.« Er musterte die zwei Priester. »Nicht alle sehen es, nur jene, die mir damals auf den See Velubar folgten. Die anderen sind blind, sie haben ihre Augen noch nicht geöffnet. Dort unten in der Stadt leben Hunderte, die das neue Land nicht erkennen, nicht seine Küste und nicht seine wahre Größe.«
    Der Mönch, der zuerst gesprochen hatte, erbleichte. »Verzeiht mir, König! Ihr habt recht … blind bin ich, blind! Gebt mir eine Scherbe, damit ich mir die Augen herausschneiden kann … denn wenn sie nicht sehen, was Ihr verkündet, sollen sie erlöschen.« Er fiel auf die Knie, faltete die Hände.
    »Eine Scherbe wirst du sicher finden auf diesem Felsen. Schneide tief, Mönch, schneide gründlich! Ich kann es nicht dulden, dass die Menschheit in zwei Lager zerfällt, die nicht dasselbe sehen.« Tarnac wandte sich von den beiden ab. »Jeden Tag gelangen neue Flüchtlinge nach Venetor. Sie schreiten über das Feld des Sees Velubar, taumeln und sinken in den Schlamm, ausgehungert und erschöpft. Wie viele sind es bereits? Tausende, und immer weitere streben herbei. Verzweifelte, Entwurzelte. Gyraner und Kathyger. Candacarer und Arphater. Sitharer und Troublinier. Und alle flüstern den Namen des Kindes, das sie geführt hat: Laghanos.« Seine Augen blitzten auf. »Es ist seltsam … die Götter zerstören Gharax, aber die Inseln im Silbermeer lassen sie uns. Die alten Küsten verschmelzen

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