Splitterseelen
schützen. Warum er sich diese Mühe machte, wusste er selbst nicht. Überlebenschancen hatte er sowieso nicht, es wäre klug, das Elend rasch und schmerzlos zu beenden.
„Was du sagtest, war nicht ganz richtig“, sagte Mijo nach einer Weile mit nachdenklichem Unterton. „Ich habe durchaus Angst vor dem Tod. Ich meine, ich bin einmal gestorben und wieder auferstanden. Ein zweites Mal schaff ich das Kunststück nicht und wer weiß, was mich danach erwartet?“
Jason schnaubte, so viel Egoismus war ihm keine Antwort wert. Außerdem kühlte er aus, nachdem ihm sein Anfall gerade wenigstens ein bisschen Wärme geschenkt hatte. Der Boden war hart, strahlte feuchte Kälte ab und war mit piksigen Stacheldingern übersät, die sich durch sein dünnes Hemd und in seine nackten Arme bohrten.
„Warum zögerst du?“, fragte er anklagend. „Du wolltest mich eben umbringen und jetzt, wo ich dich dazu auffordere, zierst du dich?“
„Schätzchen, bist du echt solch ein Feigling? Geht dir die Muffe, wenn dein Superengel dich nicht beschützt?“
„Lass mich in Ruhe, du Penner. Ich hab begriffen, dass Calael zu den Bösen gehört“, fauchte Jason überreizt. „Leider gehörst du auch zu den Bösen, jedenfalls aus meiner Perspektive. Ein Jahr auf der Flucht an deiner Seite überleb ich nicht. Ich bezweifle ja bereits, dass ich diese eine Nacht überstehen werde. Sterben will ich garantiert nicht, aber wenn es sein muss, wäre es großzügig von dir, mir allzu langes sinnloses Leiden zu ersparen.“
Mijo lachte leise. „Baby, ich bin ein Dämon, vergessen? Großzügig war ich schon als Mensch nicht. Außerdem brauch ich dich. Solange ich dich habe, kann ich was aushandeln, sobald ich erwischt werde. Na ja, und erwischen wird man mich über kurz oder lang, wenn Dämonen und Spiegelweltler sich zusammentun.“
Jason rollte sich so klein wie möglich zusammen und kämpfte hart gegen die würdelosen Tränen der Verzweiflung, die sich einmal mehr ansammelten. Ein hoffnungsloser Kampf, da er zugleich alles geben musste, um nicht vor Kälte mit den Zähnen zu klappern. Nicht einmal in den Schlaf flüchten konnte er sich.
Mijo betrachtete die Silhouette des erbärmlich schlotternden jungen Mannes. Der Kleine beeindruckte ihn wider Erwarten, er hätte nicht gedacht, dass Jason den Mumm haben könnte, sich noch immer gegen ihn zu behaupten. Er hatte mutigere und coolere Typen erlebt, die sich mittlerweile längst in seine Arme geworfen und ihm alles versprochen hätten, solange er ihnen half, statt sie umzubringen.
Nachdenklich musterte er die kuschelige Decke, die ihn wärmte und für bequemeres Liegen sorgte. Dieses fiese Ziehen in seinem Bauch, war das sein schlechtes Gewissen? Damals hatte er hungernden Kleinkindern das Essen aus der Hand gerissen und sich nicht darum geschert, ob die Kurzen deswegen heulten. Jeder musste selbst schauen, wie er überlebte und nur die Stärksten kamen durch. Das Gesetz des Dschungels wie auch der Slums, einfach und gnadenlos. Warum kümmerte es ihn, ob Jason unter der Kälte litt? Erfrieren würde er vermutlich nicht, dafür war es nicht frostig genug, oder? Mijo erinnerte sich nicht daran, wie widerstandsfähig Menschen waren, zumal Jason zu der verwöhnten Sorte gehörte, die von reichen Eltern alles in den Hintern geblasen bekamen.
Hm, fataler Fehler, ich sollte wirklich nicht an Hinterteile denken!
„Kennst du keine Aikido-Technik, um dich innerlich aufzuwärmen?“, fragte er leise. „Diese Yoga-Qi Gong-Shaolin-Konfu-Typen können das doch auch.“
„Ich gehe seit drei Jahren einmal die Woche zum Training, du Spinner!“, knurrte Jason ungehalten. „Das reicht gerade, um die grundlegenden Abwehrtechniken zu erlernen.“
„Klingt sehr uneffektiv. Überhaupt, dieser defensive ‚bloß keinem weh tun’-Kram ist Blödsinn. Wenn du angegriffen wirst, musst du dafür sorgen, dass dein Feind nicht mehr aufsteht.“
„Fein. Mach das mal. Lässt du mich jetzt in Ruhe?“
Es klang niedlich, wie Jasons Stimme bei jedem Wort bibberte. Trotzdem machte Mijo sich ein bisschen Sorgen. Wenn ihm der Kleine heute Nacht erfror, würde er von jedem Gegner von Andina zum Abschuss frei gegeben werden. Nein, es half nichts, er musste sich um ihn kümmern. Natürlich nur, weil es nützlich für ihn war und sein eigenes Überleben garantierte. Ein schlechtes Gewissen, ha! So etwas kannte er gar nicht. Das unbehagliche Ziehen im Leib kam vermutlich von der Aufregung und dem langen Flug.
Mit
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