Splitterwelten 01 - Zeichen
Argwohn. »Ihr beschämt mich nach allem, was ich über Euch und Euer Volk gesagt habe, aber …«
Er wartete.
»… aber ich weiß nicht, ob ich jemals anders über Euch und die Euren denken kann«, gestand sie leise. »Mein Herz ist so voller Trauer, dass der Schmerz mich fast zerreißt.«
»Ich weiß.« Er nickte. »Findet Cedaras Mörder, und ich schwöre Euch, Ihr werdet Vergebung finden, Kalliope. Sowohl vor Eurer Meisterin als auch vor Euch selbst. Und vielleicht werdet Ihr dann auch mir und meinem Volk vergeben.«
10. Kapitel
In dieser Nacht loderte auf Tridentia der erste Scheiterhaufen.
Der Name des Mannes, dessen Körper dem hellen Licht der Flammen übergeben wurde, damit seine vom Nox umfangene Seele Läuterung finde, lautete Arion.
Unter dem Einfluss der Folter hatte der ehemalige Hausmeier Ardaths des Goldenen schließlich doch sein Schweigen gebrochen und ein umfassendes Geständnis abgelegt. Heulend und wimmernd hatte er hinausgeschrien, Teil einer umfassenden Verschwörung zu sein, deren erklärtes Ziel es war, die Gilde zu bekämpfen und ihren Einfluss zurückzudrängen, auf dass die Welten des Sanktuarions in ein Zeitalter primitiver Barbarei zurückfielen; ferner hatte er zugegeben, den dunklen Göttern des Nox zu huldigen und ein Feind der lichten Schöpfung zu sein. Nur was jenes Zeichen zu bedeuten hatte, das in sein Medaillon eingraviert gewesen war, hatte er auch unter heftigster Qual nicht erklären wollen, sodass Harona schließlich von ihm abgelassen hatte. Seine Schuld war auch so erwiesen, eines weiteren Beweises bedurfte es nicht.
Am Fuß des aus Fichtenholz und Reisig aufgeschichteten Haufens stehend, der sofort Feuer gefangen hatte und inzwischen lichterloh in Flammen stand, starrte Prisca auf das formlose schwarze Bündel, das inmitten der Feuersbrunst am Pfahl hing und einmal ein Mensch gewesen war.
Arion hatte geschrien.
Seinem Geständnis zum Trotz hatte der einstige maior domus bis zuletzt behauptet, unschuldig und das Opfer eines Missverständnisses zu sein. Erst als Meisterin Harona das Urteil verlas, zeigte er sein wahres Gesicht. Mit hassverzerrten Zügen und von Irrsinn getriebenem Blick hatte Arion der Gilde und der Schöpfung gespottet, hatte übelste Verwünschungen ausgesprochen und die Gildemeisterin und ihre Schülerin mit Beleidigungen überschüttet. Harona hatte alles an sich abgleiten lassen, ohne dass eine Regung zu erkennen gewesen wäre – anders als Prisca.
Tief in ihrem Inneren hatte die Schülerin nach wie vor Zweifel an der Schuld des Zeremonienmeisters gehegt, und die Tatsache, dass sie selbst zu seinem Geständnis beigetragen hatte, war in dieser Hinsicht nicht hilfreich gewesen. Hatte Arion all diese Verfehlungen tatsächlich begangen und den König absichtlich in die Irre geführt, im Dienst einer obskuren Verschwörung? Oder war er lediglich ein fehlgeleiteter Geist, der den Genuss über seine Pflichten gestellt und sich darüber selbst vergessen hatte?
Die Folter anzuwenden und jene Fähigkeiten, an denen sie ihr Leben lang gearbeitet hatte, dafür einzusetzen, Leid und Schmerz zu erzeugen, hatte in Prisca eine Leere hinterlassen. Ihr Innerstes war dadurch ins Ungleichgewicht geraten, das Gefühl, einen folgenschweren Fehler begangen zu haben, war stärker gewesen als jedes Pflichtgefühl.
Doch als das Winseln und die Unschuldsbeteuerungen des Verurteilten in wüste Beschimpfungen übergingen und er begann, die Gildeschwestern zu verfluchen und sie mit obszönen Gesten zu beschmutzen, wurde der Streit in ihrem Inneren entschieden. So viel Aggression, so viel abgrundtiefer Hass sprach aus Arions Worten, dass auch Prisca nicht mehr anders konnte, als in ihm eine verirrte, sündige Seele zu sehen. Und mit der Einsicht, dass der oberste Hofbeamte tatsächlich dem Nox verfallen war, kam auch die Überzeugung, dass Harona richtig gehandelt hatte.
Aufgrund ihrer Erfahrung hatte die numerata dem verräterischen Berater von Anfang an ins Herz geblickt, und sie hatte nicht gezögert zu tun, was nötig war, um das Böse darin zu bekämpfen. Bei den letzten Flammen, die am zur Unkenntlichkeit verbrannten Torso des maior domus emporleckten, und bei dem bitteren Gestank, der vom Scheiterhaufen aufstieg, schwor sich Prisca, dass auch sie in Zukunft nicht zögern würde, alle Feinde der Gilde unnachgiebig zu bekämpfen, zum Wohl der Schwesternschaft und zu ihrem eigenen, auf dass die Seelen der Verirrten gerettet würden.
Die Gildeschülerin
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