Splitterwelten 01 - Zeichen
spürte, dass sich etwas in ihr verändert hatte. Noch immer hallten in ihr die gellenden Schreie des Gefangenen nach, der lauthals um Gnade flehte, während die Flammen seine Kleider in Brand setzten, und sie war sicher, dass sie diese Schreie niemals würde vergessen können – aber sie empfand kein Bedauern mehr.
Mit einer energischen Geste hob sie die Hand und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, während sie sich einredete, dass es nur der beißende Rauch gewesen war, der sie ihr in die Augen getrieben hatte.
11. Kapitel
»Seid Ihr bereit?«
Der fragende Blick, den Erik Kalliope zuwarf, war voller Mitleid. Dem Prinzen schien bewusst zu sein, was er der Gildeschülerin zumutete, dennoch gab es zumindest in seinen Augen keine andere Möglichkeit.
Kalliope schloss die Augen und fasste sich, versuchte, die schrecklichen Erinnerungen so gut wie möglich zu verdrängen, indem sie ihren inneren Fokus zu finden suchte, den Ort der Kraft.
Ruhe.
Frieden.
Gleichgewicht …
Sie öffnete die Augen wieder und nickte – und Erik stieß die Pforte zur Vergangenheit auf.
Knarrend öffnete sich die Tür und gab den Blick frei auf jenes alte, von Säulen getragene Gewölbe, in dem sich die Bluttat ereignet hatte.
Erik warf ihr einen besorgten Blick zu. »Seid Ihr sicher, dass Ihr das wirklich tun könnt?«
Sie nickte, ein wenig zu rasch, um überzeugend zu wirken. Im Grunde wusste sie selbst nicht, worauf sie sich einließ, aber ihr war klar, dass sie diesen Schritt tun musste. Kalliope hatte beschlossen, die Isolation ihrer Kammer aufzugeben und stattdessen nach dem Mörder ihrer Meisterin zu suchen. Und wo, wenn nicht hier, sollte diese Suche beginnen?
Sie ging weiter bis zu den Säulen, die die Decke der Halle trugen, und fast kam es ihr vor, als ob Meisterin Cedara jeden Augenblick hinter einer von ihnen hervortreten würde. Aber natürlich wusste sie, dass dies nicht geschehen würde.
Cedara war tot.
Alles, was blieb, war die Suche nach ihrem Mörder …
»Ist es genau wie in jener Nacht?«, erkundigte sich Erik, der ein Stück vorausgegangen war. Nun, da er sich nicht mehr als Diener tarnen musste, trug der Sohn des Fürsten eine bis zu den Knien reichende dunkelgrüne Tunika, deren Borten mit kunstvollen Stickereien verziert waren. Darüber trug er einen fellgesäumten Umhang. An seiner Seite hing ein Schwert mit langer Klinge und kurzem Griff.
Kalliope sah sich um.
Die Säulen, der erloschene Kamin, die brennenden Fackeln, die irrlichternde Schatten warfen. Alles schien genau wie damals zu sein, und dennoch …
»Etwas«, gab sie zur Antwort, »etwas ist anders.«
»Was meint Ihr?«
»Ich vermag es nicht zu benennen. Vielleicht ist es auch nur die Trauer oder das Wissen um die Dinge, die geschehen sind, die mich manches anders sehen lässt.«
»Versucht, Euch genau zu erinnern. Alles kann von Wichtigkeit sein.«
»Ihr sagtet, dass Ihr bereits Nachforschungen angestellt hättet«, entgegnete Kalliope.
»Das ist richtig.«
»Was habt Ihr herausgefunden?«
Er schien einen Moment zu zögern. Dann griff er an den breiten Gürtel, den er über seiner Tunika trug, und zog darunter ein Stück weiches Wildleder hervor, in das er offenbar etwas eingewickelt hatte. Er entfaltete das Leder sorgfältig und zeigte ihr den Inhalt.
»Diese Haare«, erklärte er, »habe ich unweit der Stelle gefunden, an der Eure Meisterin ermordet wurde.«
Kalliope nickte, das schwarze Haarbüschel betrachtend. Dann griff sie in den Beutel, den sie am Gürtel trug und der aus dem Besitz Meisterin Cedaras stammte, und holte das kleine Döschen hervor. Sie nahm den Deckel ab und reichte es Erik. »Und diese Haare«, sagte sie, »hat meine Meisterin gefunden, kurz bevor sie starb. Sie stammen vom Mord an Meisterin Glennara.«
Verblüfft betrachtete Erik die zweite Probe und verglich sie dann mit dem Fund, den er gemacht hatte.
»Farbe und Stärke stimmen überein …«, stellte er schließlich fest.
»… und sind eindeutig nicht menschlichen Ursprungs«, fügte Kalliope hinzu.
»Es sind die Haare eines Skolls«, bestätigte Erik. »Was noch nicht beweist, dass auch ein Skoll der Täter gewesen ist.«
»Das hat Meisterin Cedara ebenfalls gesagt«, räumte Kalliope ein. »Aber es gibt einen Unterschied zum Mord an Meisterin Glennara – diesmal gab es eine Zeugin. Zwischen dem Schrei, den Meisterin Cedara ausstieß, und dem Moment, da ich sie fand, ist nur kurze Zeit verstrichen. Wer immer sie getötet hat, muss
Weitere Kostenlose Bücher