Splitterwelten 01 - Zeichen
deuten konnte denn als Zeichen des Misstrauens.
»Glaubt Ihr, wir werden Jordråk bald verlassen können?«, fragte Baramiro, der sich noch immer nicht rasiert hatte – infolgedessen wucherte ein wüstes grauschwarzes Ungetüm in seinem hageren Gesicht. »Meine Männer werden allmählich unruhig. Sie wollen nach Hause.«
»Ich kann Eure Männer gut verstehen, Kapitän«, versicherte Kalliope. »Keiner von ihnen hat damit gerechnet, so lange in der Fremde verweilen zu müssen. Vielleicht dürfen wir ja alle bald nach Hause zurückkehren.«
Nach Hause …
Der Nachklang dieser Worte berührte Kalliope auf seltsame Weise. Einerseits sehnte sie sich noch immer danach, Ethera endlich wiederzusehen – andererseits ertappte sie sich dabei, dass ihr der Gedanke, Jordråk zu verlassen, bei Weitem nicht so gefiel, wie er es hätte tun sollen …
Sie näherten sich dem Flaggschiff.
Es war größer als die übrigen und verfügte zusätzlich zum Heckkastell über weitere Aufbauten, die es wie eine fliegende Festung wirken ließen; nicht nur, dass das Schanzkleid mehrfach verstärkt und mit Zinnen versehen war, es gab auch zwei halbrunde Türme, die das Vordeck zu beiden Seiten säumten und mit ballistae versehen waren. Mittschiffs war eine weitere Pfeilschleuder montiert, die sich schwenken ließ und die, zu Kalliopes Irritation, in diesem Augenblick auf die Gondel ausgerichtet wurde. Nicht nur sie fragte sich, was dies zu bedeuten haben mochte, auch Baramiros hohe Stirn legte sich in Falten. Der Kapitän ließ ein besorgtes Knurren vernehmen, sagte aber nichts. Fast hatte es den Anschein, als wollte ihnen die Levitatin, die die Gondel lenkte, einen Eindruck von der Kampfkraft und Stärke des königlichen Flaggschiffs geben. Denn statt die Besucher direkt dorthin zu bringen, ließ sie sie das Schiff einmal umrunden, vorbei an den Seitentürmen und unter dem steil aufragenden Bug hindurch, ehe sie auf dem Hauptdeck zur Landung ansetzte.
Der Empfang war alles andere als freundlich.
Eine Abteilung schwer bewaffneter Soldaten, die die Kesselhaube und den blauen Rock der königlichen Truppen trugen, stand bereit, um die Gildeschwester und ihre Begleiter in Empfang zu nehmen. Unbehelligt ließ man Kalliope und Kapitän Baramiro aussteigen. Als sich die beiden Einherjar jedoch ebenfalls anschickten, die Gondel zu verlassen, blickte ihnen eine Phalanx gesenkter Knebelspieße entgegen.
Kalliope sah das Unverständnis und den Zorn in Urgars Gesicht – waren sie nicht treue Vasallen Tridentias? Warum wurden sie so feindselig behandelt? Sie nickte dem alten Kämpen zu und gab ihm mit einem Blick zu verstehen, dass sie sich um alles kümmern und das Missverständnis aufklären wollte. Daraufhin schien er sich ein wenig zu beruhigen.
Sein Kamerad und er blieben an Bord der Gondel zurück, während Kalliope und Baramiro einem Unterführer folgten, der sie nach achtern zum Kastell brachte. Durch einen überdachten Niedergang gelangten sie unter Deck, und der Soldat führte sie in eine Kajüte, die ganz offenbar für Verhandlungen bestimmt war. In der Mitte des länglichen Raumes, der keine Fenster besaß und von mehreren von der Decke hängenden Öllampen beleuchtet wurde, stand ein Tisch. An der Stirnwand hing eine blaue Standarte mit den drei Kronen Tridentias darauf.
»Warum bringst du mich hierher?«, verlangte Kalliope von dem Unterführer zu wissen. »Wer führt den Befehl über dieses Schiff? Ich bin eine Angehörige der Levitatengilde und verlange eine meiner Mitschwestern zu sprechen.«
»Deinem Wunsch wurde bereits entsprochen«, sagte jemand hinter ihr.
Kalliope fuhr herum. Erst jetzt bemerkte sie die Gestalt, die in der nur spärlich beleuchteten Ecke stand. In dem schwarzen Gewand, das sie trug, war sie gegen den dunklen Hintergrund kaum auszumachen.
»Wer …?«, wollte Kalliope fragen, als die Gestalt bereits vortrat und ihre Kapuze zurückschlug.
Prisca.
Kalliope wusste nicht, ob sie verwundert oder bestürzt, freudig erregt oder verärgert sein sollte. Spontane Freude drängte sie dazu, auf die Freundin zuzustürzen und sie herzlich zu umarmen, doch etwas sagte ihr, dass Vorsicht angeraten war.
Prisca hatte sich verändert.
Nicht länger trug sie die helle Robe einer Schülerin, sondern war in tiefstes Schwarz gekleidet, gerade so wie ihre Meisterin. Auch hatte sie ihr rotes Haar nicht mehr lang und offen, wie sie es früher meist getragen hatte, sondern kurz geschnitten, sodass ihre blassen Gesichtszüge
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