Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Splitterwelten 01 - Zeichen

Splitterwelten 01 - Zeichen

Titel: Splitterwelten 01 - Zeichen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
Vom Netzwerk:
Ruhe.
    »Tu, was ich dich gelehrt habe«, schärfte Cedara ihr ein. »Suche deine innere Mitte. Bewahre das Gleichgewicht. Entdecke den Ursprung deiner Kraft.«
    Kalliope tat, was von ihr verlangt wurde. Indem sie tief in sich versank, gelang es ihr, alle Empfindungen auszublenden und jenen Punkt zu finden, an dem Geist und Materie eins wurden. Arcanum pflegten die Schwestern der Gilde diesen Ort zu nennen, den nur sie allein zu erreichen vermochten – die geheime Quelle ihrer Kraft.
    In Gedanken ließ Kalliope sich nieder wie jemand, der sich anschickte, aus dem klaren Wasser eines Gebirgsbachs zu trinken. Sie breitete die Hände aus und formte damit kleine Kellen, damit die Kraft sich darin sammeln konnte – und in diesem Augenblick spürte sie das Gewicht.
    Drückend.
    Mächtig.
    Mächtiger als alles, was sie je zuvor mit ihrer Willenskraft bewegt oder getragen hatte.
    Ohne die Augen zu öffnen oder es mit den Händen zu berühren, konnte Kalliope das Schiff mit ihren Sinnen erfahren, vom steilen Bug bis zum Heck. Sie fühlte seine massige Form und sein ungeheures Gewicht, und einen Augenblick lang fürchtete sie zu versagen. Aber ihre Willenskraft hielt dem Druck stand, und so hatte die Schülerin schließlich das Gefühl, eins zu werden mit dem Schiff.
    Die Levitation begann.
    »Gut so«, hörte sie Meisterin Cedara wie aus weiter Ferne sagen, während sie merkte, wie Gewicht und Masse zunahmen. Nach und nach lud ihre Lehrerin ihr die gesamte Last des Schiffes, seiner Besatzung und seiner Ladung auf, bis Kalliope fast das Gefühl hatte, darunter zusammenzubrechen. Schweißperlen traten ihr auf die Stirn, für einen kurzen Augenblick flackerte ihre Konzentration wie eine Kerze im Wind. Eine Erschütterung durchlief das Schiff, jemand schrie entsetzt auf. Doch schon im nächsten Augenblick hatte sie die Volanta wieder abgefangen, und der Kapitän gab die Befehle aus: »Backbordsegel reffen! Drehen um neunzig Grad! Langsam steigen, 4 Grad Azimut!«
    Kalliope verstärkte ihre Bemühungen und hob das Schiff an. Immer wieder sagte sie sich dabei, dass es für den Vorgang der Levitation unerheblich war, ob sie nur sich selbst in die Lüfte hob oder auch den Sitz, auf dem sie saß … oder das gesamte Schiff. Wo Geist und Materie verschmolzen, spielten Größen und Massen keine Rolle mehr. Nur das Gleichgewicht zählte, nichts sonst.
    »Achtung, Kapitän! Felsvorsprung an Backbord!«, meldete jemand unvermittelt.
    »Hart drehen!«, befahl Baramiro mit heiserer Stimme. »Jetzt!«
    Kalliope konnte hören, wie die Steuerleute am Ruder rissen. Wanten und Taue der Volanta ächzten, als das Schiff um den Hauptmast rotierte. Gleichzeitig waren Schreie und ein hässlich schrammendes Geräusch zu hören, dazu das Splittern von Holz.
    »Wir drehen zu langsam!«, hörte man den Bootsmann rufen. »Wir stoßen gegen den Fels! Festhalten!«
    Das Ächzen setzte sich fort, während die Rudergänger versuchten, die Volanta durch eine geschickte Drehung außer Gefahr zu bringen. Dass es ihnen nicht gelang, verriet der heftige Stoß, der das Schiff im nächsten Moment erschütterte – und der Kalliope aus ihrer Konzentration riss.
    »Mastbruch an Backbord«, vermeldete Kelso. »Wir drohen aufzulaufen!«
    »Sofort steigen!«, wies Kapitän Baramiro Kalliope an. »Wir müssen an Höhe gewinnen!«
    Doch die Schülerin war nicht mehr in der Lage zu reagieren.
    Aus dem Gleichgewicht gebracht, stürzte alles wieder auf sie ein – ihre Befürchtungen, ihre Selbstzweifel, ihre Erinnerungen. Urplötzlich sah sie wieder die hämisch grinsenden Gesichter ihrer Peiniger vor sich, die Tätowierung mit dem seltsamen Zeichen. Und fast gleichzeitig fühlte sie auch wieder die Panik in sich hochkriechen, nackte Todesangst.
    »Konzentriere dich«, beschwörte sie Cedara. »Du bist die Levitatin des Schiffes. Sei dir zu jedem Augenblick der Verantwortung bewusst, die dir übertragen wurde!«
    Kalliope verfiel erst recht in Panik. Wie sollte sie, eine Schülerin, ein Schiff durch ein Riff tragen? Wie konnte sie Verantwortung für all die Leben an Bord übernehmen, wenn sie selbst von Angst und Zweifeln zerfressen war? Wie das Schiff daran hindern, in die bodenlose Tiefe zu stürzen, wenn sie selbst den festen Grund unter ihren Füßen verloren hatte?
    Die Konsequenz ließ nicht auf sich warten. Erneut durchlief ein schwerer Stoß das Schiff. Diesmal allerdings nicht aufgrund einer weiteren Kollision, sondern weil die unsichtbaren Fäden, die es in der

Weitere Kostenlose Bücher