Splitterwelten 01 - Zeichen
Anblick des Todes ist mir vertraut.«
»Demnach scheinst du dich auszukennen«, folgerte Cedara. »Was also könnte es gewesen sein, das unsere Schwester so grässlich zugerichtet hat? Hast du einen Verdacht?«
»Nun«, entgegnete Erik ausweichend, »einige der alten Krieger sind davon überzeugt, ein Fluch der Ahnen hätte die Gildemeisterin ereilt.«
»Und ihr den Kopf halb von den Schultern gerissen?« Cedara schürzte abschätzig die Lippen. »Denkst du ebenso?«
»Nein, Gildemeisterin.«
»Was vermutest du also?«
»Die einzige Antwort auf Eure Frage ist gleichzeitig nicht möglich.«
»Nämlich?«
»Allem Anschein nach«, antwortete Erik zögernd, »ist Eure Mitschwester das Opfer eines Skolls geworden.«
»Eines Lupiden?«, fragte Cedara nach. »Eines Wolfsmenschen?« Kalliope musste an die aufgespießten Häupter denken, die sie über dem Tor der Festung gesehen hatte.
Skolls, hallte es in ihrem Bewusstsein nach.
Wolfsmenschen …
»Von alters her sind sie auf Jordråk beheimatet, genau wie wir«, bestätigte der Diener, »und wir liegen in fortwährendem Kampf mit ihnen. Unentwegt lauern sie uns auf und verüben Standhogg auf unsere Dörfer und Siedlungen …«
»Wovon sprichst du?«, fragte Kalliope, die das Wort noch nie gehört hatte.
»Standhogg bedeutet einen überraschenden Überfall aus dem Hinterhalt heraus«, erklärte Cedara.
»So ist es.« Erik nickte. »Die Skolls sind ebenso verschlagene wie grausame Krieger, und eine Untat wie diese wäre ihnen zuzutrauen. Allerdings … kann ich mir nicht denken, wie ein Skoll in die Festung eingedrungen und dann ungesehen wieder verschwunden sein sollte. Die Wächter hätten ihn fraglos aufgespürt und ihn in Stücke gehackt.«
»Und wenn es kein Skoll war?«, wandte Cedara ein. »Wenn wir das nur annehmen sollten?«
»Ihr vermutet, dass jemand ein solches Blutbad anrichten könnte, nur um eine falsche Fährte zu legen?«
»Warum nicht?«
»Das müsst Ihr mir erklären«, entgegnete Erik unverwandt, »denn Ihr kommt von einer zivilisierten Welt. Hier auf Jordråk herrscht rohe Barbarei, wie Ihr wisst.«
Einmal mehr war Kalliope entrüstet über den frechen Ton, den der Diener an den Tag legte, aber die jüngsten Enthüllungen nahmen ihre Aufmerksamkeit zu sehr in Anspruch, als dass sie etwas erwidert hätte.
»Ich kenne die Antwort nicht«, gab Cedara zu, »aber du kannst mir glauben, Junge, dass ich schon vor langer Zeit aufgehört habe, nach dem Sinn und den Grenzen menschlichen Handelns zu fragen. Hat die Halle noch andere Zugänge als diesen?«
Eriks Zögern währte nur einen winzigen Augenblick. »Nein«, erklärte er dann.
»Dann muss der Täter also auf gewöhnlichem Wege hereingelangt sein, was meine Vermutung, es könnte kein Skoll gewesen sein, noch unterstützt«, überlegte Cedara. »Nun lass uns bitte allein.«
»Was habt Ihr vor?«
Die Meisterin lächelte nachsichtig. »Ich werde versuchen, mit diesem Ort eins zu werden und das Wissen, über das ich nun verfüge, benutzen, um herauszufinden, was in jener Nacht genau geschehen ist.«
»Ich verstehe.« Der Diener verbeugte sich zum Abschied und wandte sich zum Gehen. »Wenn Ihr etwas benötigt, so lasst es mich wissen. Ich warte draußen vor der Tür.«
»Danke – und Erik?«
»Ja, Gildemeisterin?«
»Hat dich jemand an jenem Morgen gesehen, als du die Vorräte überprüfen gegangen bist?«
»Ihr meint, ob jemand meine Aussage bezeugen kann?«
»Genau das.«
Der Diener überlegte kurz. »Nein, Gildemeisterin. Das kann niemand. Ihr müsst Euch wohl auf meine Worte verlassen.«
Cedara nickte, und ein Lächeln glitt über ihre Züge, das nichts Gutes zu bedeuten hatte. »Das habe ich mir fast gedacht«, erwiderte sie.
»Neeein!«
Der Schrei des Gefangenen hallte von der Gewölbedecke wider. Die Luft in der Kammer war getränkt von Brandgeruch, vom Gestank verschmorten Fleisches – und vom bitteren Odem nackter Angst.
»Du willst nicht sprechen? Noch immer nicht?«
Wie ein dunkler Geist stand Meisterin Harona neben der Folterbank, auf der sich ihr Gefangener wand, schutzlos und halbnackt, ihrer Macht ausgeliefert. Nur wenig erinnerte an den stolzen Hausmeier, der noch vor Kurzem so hoch in der Gunst des Königs gestanden hatte. Arions bleiche, abgemagerte Gestalt war von Brandwunden übersät, sein Haar hing in schmutzigen Strähnen, der Blick seiner einstmals so wachen Augen flehte um Gnade.
»Ich kann Euch nichts preisgeben, weil ich nichts weiß«,
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