Sportreporter
stimmte, auch wenn sie alle sorgsam darauf bedacht waren, nie ein Wort darüber zu verlieren.
Was mir jedoch wirklich zuwider war und mich schließlich veranlaßte, am Ende des Semesters mitten in der Nacht aus der Stadt zu fliehen, ohne mich verabschiedet, ja, ohne meine Zensuren abgegeben zu haben, war die Tatsache, daß es dort mit Ausnahme Selmas nur eingefleischte Gegner – und Gegnerinnen – des Unerklärlichen gab, alle erfahren in der Kunst des Erklärens, Erläuterns und Zerlegens, und dadurch Förderer der Beständigkeit. Für mich führte das zu schlimmster Hoffnungslosigkeit, und am Ende konnte ich ihre grinsenden, hoffnungsfrohen Lehrergesichter nicht mehr ausstehen. Lehrer, glauben Sie mir, sind geborene Schwindler der gemeinsten Sorte, denn das, was sie vom Leben wollen, ist unmöglich – zeitlose, existentielle, ewige Jugend. Es verpflichtet sie zu schrecklichen Irreführungen und Abweichungen von der Wahrheit. Und die Literatur, da sie nun mal von Dauer ist, dient ihnen als Vehikel.
Alles dort hatte von Dauer zu sein – das Leben ebenso wie die Backsteine der Bibliothek und die literarischen Bücher, vor allem beim Blick durch das Schlüsselloch ihrer dominierenden Themen: ewige Wiederkehr, die Beherrschung des Menschen durch die Maschine, die fortlaufende Saga vom mittelmäßigen Leben, das einem prickelnden Tod vorzuziehen sei, fort und fort bis zur vermoderten Erstarrung. Das wirklich Geheimnisvolle, Unerklärliche – der eigentliche Grund, weshalb wir Bücher lesen (und erst recht schreiben) – war für sie etwas, das sie auseinandernahmen, destillierten und zerschlugen, bis nur noch Schutt übrigblieb, den sie zu jämmerlichen, aber dauerhaften Erklärungen plattwalzten; mit anderen Worten: Sie bauten Denkmäler für sich selbst. Meiner Meinung nach sollten alle Lehrer im Alter von zweiunddreißig aufhören zu unterrichten und erst mit fünfundsechzig in ihren Beruf zurückkehren, so daß sie ihr Leben leben können, anstatt es unterrichtend zu vergeuden – nur so haben sie ein Leben voller Vieldeutigkeit und Flüchtigkeit und Bedauern und Staunen, und sie müssen öffentliche Erklärungen erst wieder im Alter abgeben, wenn ihr Ende nahe ist und sie nichts anderes mehr tun können.
Mit dem Erklären beginnen unsere ganzen Schwierigkeiten.
Es stimmt natürlich, daß sie nichts anderes taten als ich – sie hielten sich das Bedauern vom Leib, durchaus klug, wenn man es genau versteht. Aber sie hatten alle beschlossen, für sie werde es wirklich nie wieder irgend etwas zu bedauern geben! Oder sie würden nie wieder für irgend etwas verantwortlich sein, das nicht absolut dauerhaft und tröstlich war. Ein untadeliges Leben. Was überhaupt nicht klug ist, da du bestenfalls versuchen kannst, das unvermeidliche Bedauern daran zu hindern, daß es dein Leben zugrunde richtet, bevor du einen neuen Anfang gemacht hast.
Wenn diese Leute dann plötzlich mit einer wirklich vieldeutigen, wirklich bedauerlichen Situation konfrontiert werden, sagen wir, mit der schlichten Aufgabe, einem empfindlichen jungen Kollegen, den sie wahrscheinlich mögen und mit dem sie hundertmal zu Mittag gegessen haben, sagen zu müssen, er müsse gehen und sich anderswo eine Beschäftigung suchen; oder mit einer so komplizierten Geschichte wie einem übermütigen, fröhlichen Seitensprung unter ihrem eigenen Dach (was unter Kollegen ständig vorkommt) – dann könnten sie nicht ungeschickter reagieren, nicht schlechter darauf vorbereitet sein oder hilfloser zusammenbrechen, weil sie es sich nicht erklären können oder es vielleicht könnten, sich aber dagegen sperren; oder noch schlimmer: Weil sie bereit sind, die lästige Geschichte einfach zu leugnen.
Manche Dinge sind nicht zu erklären. Es gibt sie einfach. Und nach einer Weile verschwinden sie, gewöhnlich für immer, oder werden auf andere Weise interessant. Die Tröstungen der Literatur wirken immer nur vorübergehend, während das Leben rasch wieder neu anfängt. Es ist besser, gar nicht erst so genau hinzusehen, mit dem Erklären gar nicht erst anzufangen. Nichts berührt mich so unangenehm, als meine Zeit mit Leuten zu verbringen, die das nicht wissen und die nicht imstande sind zu vergessen, und für die eine solche Erkenntnis noch nicht zu einem Grundstein des Lebens geworden ist.
Teilweise war es eine Folge davon, daß Selma Jassim und ich uns der seichtesten Unbeständigkeit überließen – daß wir darin schwelgten und das Bedauern einfach wegschoben,
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