Sprachlügen: Unworte und Neusprech von »Atomruine« bis »zeitnah« (German Edition)
geboren aus dem hilflosen Bemühen, ein neues Phänomen zu verstehen und zu benennen. Dass so etwas nicht funktionieren kann, bewies der Jugendmedienschutz-Staatsvertrag eindrücklich. Der Gesetzentwurf scheiterte.
just in time
Einer der Wunderbegriffe heutiger Wirtschaftstheorien. Klingt nach wahnsinniger Geschwindigkeit, ja nach einem Schlaraffenland, in dem alles stets verfügbar ist. Als würde jedes Ding, das sich jemand erträumt, sofort herbeischweben. Die offizielle Übersetzung dafür lautet »bedarfsorientiert«: Produziert wird erst, wenn es gebraucht wird, denn Lager sind teuer. Allerdings haben Lager durchaus den einen oder anderen Vorteil. Den bemerkt, wer schon einmal versucht hat, im Winter einen Schneeschieber zu kaufen. Oder wer in einem Flugzeug saß, das nicht starten konnte, da Enteisungsmittel gerade knapp war, oder im Stau steckte, weil der Räumdienst kein Salz mehr auftreiben konnte. Wörtlich übersetzt heißt der englische Ausdruck »gerade noch rechtzeitig«. Wobei selbst das schon ein leeres Versprechen ist, kommt das dringend Gebrauchte doch im Zweifel erst, wenn man es längst nicht mehr benötigt. Insofern ist just in time eigentlich out of stock , also derzeit nicht vorhanden und damit eine Antiphrase. Irgendwie wurde dieser für die gesamte Gesellschaft teure Nachteil des Konzeptes vergessen, als die Verfechter sich den Nutzen ausrechneten, den sie davon haben. Wahrscheinlich waren die Taschenrechner gerade ausgegangen. Oder die Gehirne.
K
kapitalmarktfähig
Ein Unternehmen, das hohen Gewinn zu erzielen verspricht, ist kapitalmarktfähig , gern auch sportlich »fit für die Börse« genannt, was noch gesünder klingt. Die Gewinnmaximierung ist bislang ja das A und O, auch wenn dem einen oder anderen inzwischen aufzugehen scheint, dass Gier vielleicht nicht der beste Motor des Fortschritts ist. Vgl. beispielsweise → Obsoleszenz, geplante . Doch wir schweifen ab. Hier geht es um Firmen und das Ideal, sie auf Kapitalmarktfähigkeit »zu trimmen«. Denn das wahre Glück ist nicht, eine solide Geschäftsidee zu haben und damit ein stabiles Unternehmen aufzubauen. Das wahre Glück ist offensichtlich, die Weltherrschaft zu erringen, üblicherweise Expansion oder → Wachstum genannt. Das nötige Geld gibt es, wenn jeder auf den Erfolg oder Misserfolg der Firma wetten darf. Der Platz, an dem das geschieht, ist eben jener Kapitalmarkt – hochgestochen für Geldhandel oder Börse. Die Probleme nun beginnen, wenn ein Unternehmen vor allem dadurch kapitalmarktfähig werden soll, dass an jeder Ecke gespart wird (Ausnahme Vorstandsbezüge). Denn dabei geschieht es nicht selten, dass die → Kostendämpfung auch an falscher Stelle verordnet wird, bei der → systemrelevanten Instandhaltung des einzigen Produktes etwa. Dass dies letztlich dazu führt, dass das Unternehmen alles andere als kapitalmarktfähig wird, mag man als Unfall betrachten. Eigentlich aber ist es ein Fehler im System. Oder in uns selbst, wie der Berufszyniker Ambrose Bierce schon vor einhundert Jahren wusste, als er schrieb: »Preis ist der Wert eines Gegenstandes, zuzüglich einer angemessenen Entschädigung für die Abnutzung des Gewissens, die dadurch entsteht, ihn zu erwirtschaften.«
Kaufzurückhaltung
Zurückhaltung ist in unserer Kultur etwas Positives. Wer sich zurückhält, der stellt die eigenen Interessen freiwillig hintenan und lässt einem anderen den Vortritt. Positiv aber ist die Kaufzurückhaltung auf keinen Fall gemeint. Sie soll vielmehr regelmäßig Schuld daran sein, wenn Unternehmen nicht so viel verdienen, wie irgendjemand erwartet hatte, und es infolgedessen der Wirtschaft nicht gut genug geht. Das ist einerseits eine interessante Umkehrung der Tatsachen. Denn die → Endkunden kaufen ja nicht weniger, weil sie weniger Lust dazu haben. Sie fürchten vielmehr, ihre Arbeit, ihr gespartes Geld, ihr Haus zu verlieren, und halten deswegen ihr Geld zusammen. Insofern ist die Kaufzurückhaltung andererseits eine Frechheit. Mit ihr wird die Schuld jenen zugeschoben, die am wenigsten für die Umstände können. All den Politikern und Bankern, die den Begriff verwenden, scheint das durchaus klar zu sein. Sonst würden sie nicht eine so vorsichtige Umschreibung nutzen. Schließlich ist der Vorwurf, der in der Kaufzurückhaltung steckt, heftig. Denn das Wort beweist, dass Kaufen im Kapitalismus erste Bürgerpflicht ist und dass Bürger, die sich der Kaufzurückhaltung schuldig machen, diese
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