Sprachlügen: Unworte und Neusprech von »Atomruine« bis »zeitnah« (German Edition)
Pflicht verletzen. Wer sich dem Konsum verweigert, wer sich nicht ständig irgendwelchen Kram zulegt, heißt das, der schadet dem System. Vgl. auch → systemrelevant . Es gibt Systeme, die Verräter an ihrer Sache einsperren. Soweit ist es hierzulande zum Glück noch nicht.
Kerneuropa
Es wird viel gestritten im vereinigten Europa. Der eine oder andere Staat hat so hohe Schulden, dass kaum noch jemand daran glaubt, er könne sie zurückzahlen. Das macht einer Menge Politikern Angst. Sie wollen sich daher einen → Rettungsschirm umschnallen. Der hat sogar eine eingebaute → Schuldenbremse . Oder so ähnlich. Beide scheinen aber nicht so richtig zu funktionieren, zumindest gibt es nun den Plan, die so mühsam zusammengklöppelte Europäische Union wieder zu zerlegen. Einige Politiker fordern, der eine oder andere verschuldete Staat sollte aus der EU geschmissen werden. Beziehungsweise unterscheiden jene Politiker geflissentlich zwischen einem Kerneuropa und den übrigen europäischen Ländern, die irgendwie nicht im gleichen Maß dazugehören. Es gibt noch andere schöne Wörter in diesem Zusammenhang, wie Fiskalunion, Stabilitätsunion oder Europa der zwei Geschwindigkeiten. Leider wird dabei jedes Mal vergessen zu sagen, wer denn nun dazugehört und wer nicht. Das hat System. Denn das ganze Geschwurbel soll vor allem verschleiern, dass die, denen es besser geht, eine Mauer um sich bauen wollen. Arme Staaten wie Griechenland dürfen beim Euro nicht mehr mitmachen, man wirft sie dem → Markt zum Fraß vor. Nur noch reiche Länder sollen Teil der europäischen Währung sein und wollen so ihre Schätze retten. Nett ist das nicht. Die Erfinder dieses Kerneuropa haben dabei aber offensichtlich nicht bedacht, wie und wo jenes Europa mal anfing: in Griechenland nämlich. Eine phönizische Königstochter gelangte einst aus Nordafrika dorthin. Ihr Name leitet sich wahrscheinlich vom phönizischen Wort erob ab, das vermutlich mit Bezug auf ihre Hautfarbe »dunkel« bedeutet und dann zu Europa wurde (was auf Griechisch so viel wie »weitsichtig« heißt). Damit befindet sich das Kerneuropa ziemlich sicher in eben jenem Griechenland, das mancher Politiker gerade gern los wäre.
Killerspiele
Sprachlich sind Killerspiele eine Pejoration, der Versuch also, eine möglichst abwertende Bezeichnung für einen Gegenstand zu finden. Das englische first-person shooter ist im Vergleich dazu neutraler, auch das im Deutschen gebräuchliche und daran angelehnte Ego-Shooter vermeidet eine Wertung. Die Bezeichnung als Killerspiele jedoch soll wertend sein, sie soll Abscheu und Verachtung für Computerspiele ausdrücken, die Gewalt thematisieren. Sie ist ein Beispiel für gezielt negative PR, um eine Gruppe von Menschen zu kriminalisieren; beziehungsweise eigentlich, um gesellschaftliche Probleme zu kaschieren. Dabei aber zeigt sich darin nur Unverständnis und Ignoranz. Denn konsequenterweise müsste auch von Killerfilmen und Killerbüchern gesprochen werden. Doch taugen Thriller und Krimis nicht, um von den Ursachen sogenannter Schulmassaker abzulenken. Computerspiele hingegen, die Vielen aus Unkenntnis noch immer als fremd und bedrohlich erscheinen, lassen sich prima missbrauchen, um über fehlende Perspektiven, nicht vorhandene Bildungschancen oder zusammengekürzte Jugendarbeit hinwegzutäuschen – um nur einige Gründe für jugendliche Gewalt zu nennen. Daher ist es auch mindestens grob fahrlässig, wenn Politiker die Killerspiele als eine der Ursachen von Gewalt anführen. Wäre es doch ihre Aufgabe, die eigentlichen Probleme zu nennen und zu bekämpfen.
Kirche (im Dorf lassen)
Die Redensart wird als Aufforderung verstanden, nicht zu übertreiben. Sie geht auf das Bild einer Dorfprozession zurück. Kirche bedeutet hier so viel wie Gemeinde: Wenn die Gemeinde eine große Prozession veranstaltet, dann zieht sie in der Regel um das Dorf. Die Redensart mahnt also die artigen Bürger, das Dorf und damit den Bereich des Bekannten nicht zu verlassen. In der politischen Diskussion erfüllt die Floskel damit eine ähnliche Funktion wie die Aufforderung nach → Versachlichung : Sie wird verwendet von Leuten, denen zu den Argumenten der Gegenseite keine inhaltliche Entgegnung mehr einfällt. Ein »Totschlagargument« also, das zum Ende der Diskussion auffordert. Es darf daher davon ausgegangen werden, dass, wer es gebraucht, argumentativ die schwächere Position innehat, vielleicht sogar im Unrecht ist.
Klimaskeptiker
Ein
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