Sprachlügen: Unworte und Neusprech von »Atomruine« bis »zeitnah« (German Edition)
nenne man uns → Fortschrittsverweigerer , aber angebrachter wäre dafür die Bezeichnung Tierquälerei. Stünde das allerdings auf der bunten Verpackung im Laden, würde das Fleisch wohl niemand mehr kaufen, geschweige denn essen. Auch wir nicht. Was zeigt: Wir betrügen uns gerne mal selbst und wollen gar nicht so genau wissen, was hinter bestimmten Begriffen steckt. Schade eigentlich. Vor allem für die intensiv Gehaltenen.
Internetcommunity
Falsche Übertragung des englischen Ausdrucks Online-Community . Bezeichnet dort Plattformen im Netz, auf denen sich Menschen treffen und austauschen, beispielsweise ein Forum, ein Weblog oder eine Mailingliste. Mit Online-Communities existiert eine Pluralform, was nur folgerichtig ist, immerhin wird der Begriff ursprünglich im Sinne von »kleinen Gemeinschaften« verwendet. Vgl. althergebrachte Communities wie beispielsweise Dörfer. Die Internetcommunity hingegen will die Gesamtheit aller Internetnutzer bezeichnen, derzeit also etwa 1,7 Milliarden Menschen, beziehungsweise auf Deutschland bezogen noch immer schätzungsweise 50 Millionen. Aus der Sicht jener, die diesen Begriff, aber nicht das Internet nutzen, mag das eine sektenartige, geschlossene Gemeinschaft sein, die sich einer fremden und seltsamen Kulturtechnik bedient und gefährlichen Ritualen folgt. Eigentlich ist die Internetcommunity aber nur eine schwachsinnige Sammelbezeichnung und Ausdruck für den hilflosen Versuch, eine nicht näher definierte Menge von Menschen zu etikettieren, die Dinge tun, die man selbst nicht versteht. Diejenigen, die in irgendeiner Form das Internet nutzen, als Internetcommunity zu bezeichnen, ist in etwa so sinnvoll, wie die Gesamtheit der Radiohörer, Radiosender und Radiomitarbeiter als »Radiocommunity« anzusprechen. Das im Deutschen gern synonym verwendete »Netzgemeinde« fügt dem noch eine unpassende religiöse Komponente hinzu, die an Schmähung grenzt.
J
Jobcenter
Können als missglückter Versuch gelten, die wohl trübsinnigste und ungeliebteste Institution der Marktwirtschaft aufzupeppen und gleich noch ein wenig effizienter, Verzeihung, billiger zu machen: das bis dahin so genannte Arbeitsamt. Das Center-Unwesen verhunzt ja schon länger unsere Sprache und unser Leben, ob es sich nun um Läden (Shopping Center) oder um Toiletten (WC-Center) handelt, die selbstverständlich alle keine Zentren von irgendetwas sind. Und wie so oft, wenn jemand mit einer fremden Sprache protzen oder wie hier verschleiern will, kehrt sich der Begriff gegen ihn selbst. Denn nimmt man Jobcenter wörtlich, eröffnen sie mehr Wahrheit, als sie wohl eigentlich sollen und sind sozusagen unfreiwillig ehrlich. Denn Jobs haben mit der guten alten Arbeit nicht viel zu tun, sie sind etwas Kurzes, etwas, das man für Geld erledigt, ohne Spaß daran zu haben und Sinn darin zu sehen. Übersetzt man das englische Kompositum aber, das man auf Englisch übrigens nicht zusammenschriebe, werden es Arbeitszentren. Das klingt zwar irgendwie fleißig, ist aber eine glatte Lüge. Arbeit gibt es dort nur für die, die im Jobcenter angestellt sind und deren hauptsächliche Aufgabe es ist, die Arbeitslosigkeit zu verwalten.
Jugendmedienschutz-Staatsvertrag
Bei diesem Gesetzeswerk, offiziell abgekürzt als JMSTV, offenbart schon der Titel, dass es sich wohl um Blödsinn handelt. Ginge es dem Jugendmedienschutz-Staatsvertrag – wie er vorgibt – um den Jugendschutz in Massenmedien, müsste das Ding Jugendschutz-Medienstaatsvertrag heißen. Jugendmedienschutz aber meint eher den Schutz von Jugendmedien, also den Schutz beispielsweise der »Bravo« vor wem auch immer. Vielleicht auch den Schutz der Medien vor der Jugend. Den es nicht braucht, da die Jugend sich nicht für die klassischen Medien interessiert. Dass es diesem Ding gar nicht um die Umsetzung des Jugendschutzes in Medien geht, zeigt dann die Lektüre des Entwurfes selbst. Denn der beschäftigt sich vor allem mit dem Internet beziehungsweise mit den deutschen Betreibern von Internetangeboten und dem eher verzweifelten Bemühen, diese Angebote auf die gleiche Art zu regulieren wie Radiosender. Womit dann auch endlich der kryptische Titel klar wird. Denn der Jugendmedienschutz-Staatsvertrag betrachtet das Internet als Massenmedium wie Zeitung und Fernsehen. Dem gleichen Geist entspringt die Bezeichnung von Smartphones als → Empfangsgeräte , neuartige , oder die Aussage, bei Twitter handele es sich um ein Rundfunkangebot. Sämtlich Neusprech,
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