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Sprachlügen: Unworte und Neusprech von »Atomruine« bis »zeitnah« (German Edition)

Sprachlügen: Unworte und Neusprech von »Atomruine« bis »zeitnah« (German Edition)

Titel: Sprachlügen: Unworte und Neusprech von »Atomruine« bis »zeitnah« (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Biermann , Martin Haase
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Mittelalter. Wichtige Entscheidungen eines Stadtrats oder einer Zunftversammlung wurden in einem großen Buch fortlaufend aufgeschrieben, dem Register. Heute schreibt so etwas allerdings niemand mehr in Bücher, längst sind Meldedaten in Datenbanken erfasst. Deren Zusammenführung immerhin wurde im Registerabgleich vorsichtig mit dem aus der Mode gekommenen »Abgleich« angedeutet. Der schließlich heißt »Dinge harmonisch vereinen«. Trotzdem ist der Registerabgleich als Bezeichnung ein wenig, sagen wir, ungebräuchlich, genau wie der Zensus. Hätten nicht doch noch ein paar Datenschützer und besorgte Bürger gegen das Verfahren demonstriert, wäre vielleicht gar nicht aufgefallen, worum es hier geht.

Reserve, stille
    Mit der stillen Reserve bezeichnen Politiker und Arbeitsmartkforscher diejenigen, die keine Arbeit haben, sich aber auch nicht arbeitslos melden – weil sie sowieso keine Unterstützung vom Staat bekommen würden oder so frustriert sind von der ewigen Arbeitssuche, dass sie aufgegeben haben. Die Bezeichnung als Reserve ist dabei offensichtlich eine Übernahme aus der Militärsprache. Dort meint der Begriff jene, die gerade nicht im Kriegseinsatz sind, aber jederzeit zu ihm herangezogen werden könnten. Wie von der Sprache des Militärs nicht anders zu erwarten, ist das eine Verdinglichung, eine Betrachtung von Menschen als Material. Denn Reserve bedeutet so viel wie »Vorrat«. Im Sozialismus war diese Betrachtungsweise ebenfalls weit verbreitet, und so hießen dort die Mitglieder der »arbeitsfähigen Bevölkerung«, die gerade nicht im »Arbeitsprozess« eingebunden waren, »Arbeitskräftereserve«. In der gern als sozial bezeichneten Marktwirtschaft ist das offensichtlich nicht anders. Jene, die im Sozialsystem keinen Platz finden, weil sie Hausfrau waren oder selbständig, werden noch immer als sofort verfügbarer Menschenvorrat für den Arbeitsprozess angesehen. Dass sie dabei gar als still und somit als schweigend bezeichnet werden, ist zynisch. Schweigen die schätzungsweise drei Millionen Betroffenen doch nur deswegen, weil sie niemand fragt beziehungsweise weil sich niemand für ihr Schicksal interessiert. Siehe auch →   Mehrheit, schweigende .

Restrisiko
    Es zeugt von erheblichem Willen zum Schönfärben, angesichts der tödlichen Sauerei eines radioaktiven Schrotthaufens, den ein explodiertes Atomkraftwerk darstellt, überhaupt von einem Rest zu sprechen. Der Begriff soll offensichtlich verniedlichen, ist also ein Euphemismus, denn ein Risiko bleibt ein Risiko, egal wie groß oder klein es sein mag. Doch das nur als Exkurs. Nach Definition des deutschen Atomforums, des Lobbyvereins der Kraftwerksbetreiber, ist das Restrisiko ein »nicht näher zu definierendes, noch verbleibendes Risiko nach Beseitigung bzw. Berücksichtigung aller denkbaren quantifizierten Risiken bei einer Risikobetrachtung«. Moment … Das, was übrig bleibt, wenn alle »quantifizierten«, also messbaren Risiken beseitigt sind, müssen wir hinnehmen? Also all jene Katastrophen, die geschehen, weil es einfach (noch) keinen Grenzwert für ihre Ursachen gibt? Wollen Sie wissen, wie das Bundesverfassungsgericht das Restrisiko definiert? Etwas anders: Es fordert die »bestmögliche Gefahrenabwehr und Risikovorsorge« und zwar bezogen auf den »jeweiligen Stand von Wissenschaft und Technik«. Das Restrisiko darf demnach nur jene Dinge meinen, die hypothetisch, konkret nicht vorstellbar und »jenseits der Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens« liegen. Lediglich absurde Sachen wie abstürzende Marsianer müssen demnach als Restrisiko hingenommen werden. Von Wahrscheinlichkeiten steht im sogenannten Kalkar-Urteil von 1978 nichts. Die Definition der Atomindustrie also darf getrost als Güterabwägung gelten – Bezahlbarkeit versus Sicherheit, Geld gegen Leben. Übrigens: Keine Versicherung will das Risiko dieser Anlagen auf sich nehmen, was allein schon nachdenklich machen sollte.

Rettungsschirm
    Um Unterstützung für unpopuläre Entscheidungen zu erhalten, gibt es zwei unfehlbare Möglichkeiten: Man kann beim Wähler die Gier schüren oder die Angst. Erstere fällt irgendwie aus, wenn es darum geht, mitten in einer Krise Milliarden von Euro wegzuschenken, um Pleitiers über Wasser zu halten und irgendeinen ominösen →   Markt zu beruhigen. Bleibt die Angst. Kein Wunder also, dass die Sprache im Zusammenhang mit der Eurokrise vor Panikmetaphern nur so strotzt. Der Rettungsschirm . ist so eine

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